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Sklavenaufstand

„Wir werden als Originale geboren“ wie der englische Dichter Edward Young (1683–1765) schon im 18. Jahrhundert notierte, „sterben aber als Kopien“. Ein Zitat, das in einer Zeit, in der alles nach Gleichförmigkeit zu streben scheint, von höchster Aktualität ist. Egal wo man hinblickt, alles wird normiert und standardisiert. Die Individualität wird geopfert, auf dem Altar einer uns aufgezwungenen Gehorsamkeit, die das Wesen unseres Charakters, unsere Persönlichkeit im Keim zu ersticken droht. „Der Gehorsam ist für uns so selbstverständlich geworden wie Luft und Wasser“, bringt Arno Gruen in seinem Buch Wider den Gehorsam die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen auf den Punkt. Die Strukturen des Alltags sind von einem ständigen “sich unterordnen” und dem damit verbundenen Gehorsam geprägt, dass wir diesen gefährlichen Mechanismus gar nicht mehr wahrnehmen. Mit dem Ordnungsgedanken liebäugelnde Menschen könnten einwenden, dass es Regeln und Pflichten bedarf, da sonst kein Gemeinwesen funktionieren kann. Das ist für mich nicht der Punkt. Ich frage mich aber immer wieder, warum so viele Menschen in meiner Beobachtung sich bis zur Selbstaufgabe verleugnen, ihre Persönlichkeit unterdrücken und vielerorts nahezu blind meist politisch artikulierten Verheißungen folgen? Würde es nicht genug Anlässe geben, sich auf die Hinterbeine zu stellen, Rückgrat zu zeigen und dem zivilen Gehorsam zu trotzen? Sollte nicht gerade die gesellschaftliche Elite mal vom passiven Modus des permanenten Lamentierens über alles und nichts, in einen Aktivitätsmodus verfallen, der ein paar soziale Brennpunkte – von A wie Arbeitslosigkeit bis Z wie Zuwanderung – so bespricht, dass nicht am Ende wieder die falschen bei den Wahlen gewinnen?

In Österreich ist es die FPÖ, in Deutschland die NPD und in Frankreich Marine Le Pen und ihre Front National, die bei der heurigen Europaparlamentswahl mit rund 25 % der Stimmen die stärkste Partei in Frankreich wurde und unter Arbeitern bis zu 48 Prozent der Stimmen erhalten hat. Die angesprochenen Minderwertigkeitsgefühle dieser Bevölkerungsschicht sind der ausufernde Treibsand, der die Demokratie nahezu ins Wanken bringt und gefährliche Überzeugungen salonfähig macht. Wo sind im Sinne des eingangs erwähnten Zitates noch Originale, die den Menschen erklären, dass die blinde Verfolgung von x-fach kopierten Feindbildthesen kein Mehr an Selbstbestimmung und keine Lösung aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme bringen wird? Es gehört etwas getan, nicht nur im Staate Österreich, sondern rund um den Globus. Dem Gros der Menschen wird immer mehr abverlangt, während eine kleine feine Schicht immer mehr bekommt und bekommt und bekommt. Um das zu illustrieren, kann auf den amerikanischen Ökonomen Paul Krugman verwiesen werden, der ermittelte, dass das Einkommen der Arbeiter in den Staaten seit 1970 (!) real nicht mehr gestiegen ist, während eine kleine Elite der 0,1 Topverdiener einen Einkommenszuwachs von sage und schreibe 362 (!) Prozent verzeichnen konnte. Gleichzeitig wird den Gehorsamen suggeriert, dass die anhaltenden Krisen eine gerechte Strafe für ihre Verfehlungen, für all ihr Leben im Übermaß sei.

Der US-amerikanische Psychologe Stanley Milgram (1933-1984), der durch seine Arbeit zum Gehorsam gegenüber Autoritäten internationale Bekanntheit erlangte, erbrachte den Nachweis, dass die Gehorsamen empathische Reaktionen unterdrücken. Will heißen, die immer größer werdende Ungleichheit wird stillschweigend hingenommen. Doch diese Gefügigkeit bringt uns nicht weiter! Der mehrfach ausgezeichnete Psychoanalytiker Arno Gruen resümiert in seinem wirklich lesenswerten Essay: “Gehorsamkeit ist destruktiv. Gehorsamkeit grenzt Denken ein und verneint die Realität. Die Ganzheit der Wirklichkeit lässt sich nicht nur auf das eingrenzen und einengen, was nur die kurzfristige Perspektive der Mächtigen widerspiegelt. Eine bessere Welt ist keine Phantasie eines verlorenen Paradieses. Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt.” Ja, wir brauchen ein Hinschauen und nicht das längst etablierte Abwenden des Blickes von all dem, was in einer neuen Form der Versklavung rund um uns passiert. Ja, wir brauchen nicht nur vereinzelte Stimmen, sondern ganze Chöre, die zum Gesang anheben, um diese unsagbare Nivellierung aller Lebens- und Arbeitsbedingungen nach unten zu stoppen. Und ja, wir brauchen wieder Vorbilder, die ganze Völker mobilisieren und ihnen zeigen können, dass gelebte und individuelle Menschlichkeit der Humus einer lebenswerten Zivilisation ist.