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Existenzsicherung

Kennen Sie das, wenn Sie gedanklich irgendwo dahinsurfen und plötzlich wird diese, sagen wir Denkleistung, durch eine Information durchbrochen. Gerade ging es mir so. Ich kann gar nicht mehr genau sagen, wonach ich in den Weiten des World Wide Web gesucht habe und warum ich dann in weiterer Folge genau bei dieser Geschichte, oder besser gesagt bei dieser Anekdote gelandet bin. Aber sie dient als Impuls dafür, ein paar Gedanken zu formulieren, zumal diese Story, die ich Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser meiner kleinen Kolumne, gleich erzählen werde, einen historischen Hintergrund aufweist, der nichts an Gültigkeit verloren hat. Vom ehemaligen New Yorker Bürgermeister Henry“ La Guardia (1882 – 1947) erzählt man sich folgende Episode: Eines Tages fungierte er, wie er es zuweilen tat, als Polizeirichter. Es war ein eisig kalter Wintertag. Man führte ihm einen zitternden alten Mann vor. Anklage: Entwendung eines Brotlaibes aus einer Bäckerei. Der Angeklagte entschuldigte sich damit, dass seine Familie am Verhungern sei. „Ich muss Sie bestrafen”, erklärte La Guardia. „Das Gesetz duldet keine Ausnahme. Ich kann nichts tun, als Sie zur Zahlung von zehn Dollar zu verurteilen“. Dann aber griff er in die Tasche und fügte hinzu: „Well, hier sind die zehn Dollar, um Ihre Strafe zu bezahlen.“ Hierbei warf La Guardia die Zehndollarnote in den grauen Filzhut des Bettlers. „Und nun“, setzte er mit erhobener Stimme fort, „bestrafe ich jeden Anwesenden in diesem Gerichtssaal mit einer Buße von fünfzig Cent – und zwar dafür, dass er in einer Stadt lebt, wo ein Mensch Brot stehlen muss, um essen zu können! – Gerichtsdiener, kassieren Sie die Geldstrafen sogleich ein und übergeben Sie sie dem Angeklagten.“ Der Hut machte die Runde. Und ein noch halb ungläubiger Mann verließ den Saal mit siebenundvierzig Dollar und fünfzig Cent in der Tasche.

Wann sich dieses Ereignis genau zugetragen hat, ist nicht dokumentiert, vermutlich hat sich dieser Vorfall irgendwann zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg ereignet, in einer Zeit, in der hunderttausende Menschen nach Arbeit suchten und die wenigen, die eine Erwerbstätigkeit gefunden hatten, immer schlechter bezahlt wurden. Auf einem Niveau, das „zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel gewesen ist”, wie es sprichwörtlich heißt. Lassen wir mal die goldene Generation des Wiederaufbaus beiseite, ohne respektlos zu sein, vergessen wir deren Privileg, erstmal in einen Zeitabschnitt geboren worden zu sein, in dem es ökonomisch nur nach oben ging. Im Heute angelangt, haben auch wir in unseren geographischen Breiten in vielen Bereichen des Erwerbslebens einen Status erreicht, der an die eingangs erzählte Geschichte erinnert. Es gib immer mehr Menschen, die arbeiten, nein, die Tag für Tag schuften, die ihre Leistung erbringen und von dem, was ihnen am Ende als Gehalt oder Lohn überwiesen wird, kaum bis gar nicht leben können. Und wir reden hier von meiner Heimat mitten im Herzen Europas, nicht etwa von der Demokratische Republik Kongo, Simbabwe und Burundi, die aktuell als ärmste Länder der Welt ausgewiesen werden. Wir sprechen auch nicht von Sierra Leone, wo statistisch gesehen die Lebenserwartung aktuell bei 45,6 Jahren liegt und das Bruttosozialprodukt pro Kopf bei 1815 Dollar. Wir dokumentieren den Staus Quo von Österreich, das im Jahr 2015 als das zwölftreichste Land der Erde gewertet wurde. Und auch bei uns entwickeln sich vor allem die Lohnstandards derart nach unten, dass ich mich teilweise frage, was denn überhaupt für Betroffene noch den Unterschied ausmacht, einer Arbeit nachzugehen, oder sich – bildlich gesprochen – in die „soziale Hängematte” fallen zu lassen.

Wo sind die Anreizsysteme für Menschen, um einer Beschäftigung nachzugehen? Egal ob selbständig oder unselbständig! Wenn Politiker glauben, dass mit einer Senkung der Mindestsicherung Voraussetzungen geschaffen werden, um Leute in einen Arbeitsprozess zu bringen, dann ist das sicherlich der falsche Weg und leider auch ein weiterer Beweis für die Entfremdung der Politik von den Lebensrealitäten der Menschen. Frauen und Männer gleichermaßen sollten für geleistete Arbeit in einem Ausmaß entlohnt werden, das eine selbstbestimmte Lebensweise ermöglicht. Das sollte der Anspruch eines der reichsten Länder der Erde und des zweitreichsten Landes in Europa sein. Davon scheinen wir uns aber in erschreckender Weise immer weiter zu entfernen. Ich persönlich kenne niemanden, der sich freiwillig der Arbeit verweigert, in einem Land, wo die Zugehörigkeit zur Gesellschaft darüber definiert wird, ob du Arbeit hast oder nicht. Zu diesen unbequemen Wahrheiten gehört ebenso, dass hochqualifizierte Personen immer häufiger realisieren, dass erworbene Qualifikation und erbrachte Leistung nicht mehr mit sozialem Aufstieg belohnt werden. Ich könnte Ihnen jetzt von einer Freundin erzählen, die viele Jahre sehr erfolgreich in der zweiten Hierarchieebene eines börsenorientierten Unternehmens tätig gewesen ist. Im vergangenen Sommer wurde sie mit ihren Kollegen ins Vorstandsbüro geholt und musste erfahren, dass das Management ihre Arbeit zwar außerordentlich schätze, aber die Kündigung von ihr und weiteren 6 Personen die einzige Chance sei, die kaufmännischen Unternehmensziele zu erreichen. Einfallen tut mir eine weitere Erfahrung eines jungen Anwalts, den ich im Zuge eines Projekts kennenlernte, das seine Kanzlei für mich betreute und auf den ich eines Abends wieder zufällig in einer Bar traf. Dort erklärte er mir, dass er davor 1.100,00 Euro netto all inklusive verdiente, die Woche aus 70 bis 80 Arbeitsstunden bestand, das Einkommen nicht mal für eine eigene Wohnung reichte, sondern lediglich für das Dasein in einer WG. Jetzt abreitet er als Barkeeper und verdient durch nicht zu versteuerndes Trinkgeld mehr als je zuvor. Verkehrte Welt! Ein anderer Bekannter wechselte vor einigen Monaten das Metier und arbeitet seit diesem Zeitpunkt für eine der größten Handelsketten des Landes. Er hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung auszuweisen und sagt, dass er noch nie so ein System der Ausbeutung wie bei seinem neuen Arbeitgeber erlebt hätte. Ein „Regime“, wo Mitarbeiter jeden Tag genötigt werden, Stundenaufzeichnungen zu fälschen, Mehrarbeit ohne Bezahlung zu leisten. Und dann erzählte mir noch der Konzernbetriebsvorsitzende eines der größten Unternehmens Österreichs bei einem gemeinsamen Frühstück vor nicht all zu langer Zeit, dass er viele Missstände tagtäglich in seinem Wirkungsbereich wahrnimmt, selbige auch aufzeigt, aber diese aufgrund der expliziten Duldung durch die Politik nicht abgestellt werden können. Unendlich viele Geschichten werden mir erzählt und zugetragen. Es ist zu befürchten, dass sich angesichts solcher Trends und Fakten das soziale Niveau noch weiter nach unten entwickeln wird, die Löhne noch weiter sinken, zusätzlich verstärkt durch den Zuzug tausender neuer Mitbürger, die den Faktor Arbeit noch weiter verbilligen werden. Aber darf ich mal die ganz banale Frage in den Raum stellen, ob es tatsächlich sein muss, dass der Mensch immer mehr entwertet wird, dass er immer mehr arbeitet und die Chancen immer geringer werden, davon ausreichend und menschenwürdig leben zu können? Die Sicherung der eigenen Existenz erscheint für immer mehr Menschen wie eine völlig unlösbare Aufgabe. Wenn der Staat diese immer größer werdende Gruppe der tatsächlich Armutsgefährdeten nicht dabei unterstützt, im wahrsten Sinn des Wortes selbstbestimmt überleben zu können, dann wird er eines Tages unweigerlich die Rechnung in Form von kontinuierlich wachsenden sozialen Spannungen präsentiert bekommen. Aus meiner Sicht wenden sich schon zu viele Menschen den falschen Entscheidungsträgern und Parteien zu oder laufen Organisationen blindlings oft falsch gemachten Hoffnungen hinterher. Diese bedenkliche Entwicklung zu korrigieren hat einzig und alleine eine Politik in der Hand, die den Menschen das tägliche Überleben sichert! So einfach und schwer ist diese Aufgabe zugleich.