Philosophenarsch
Umgangssprachlich sagt es sich so leicht: “Wir philosophieren mal ein wenig”, wenn er, sie oder es, mit ihm oder ihr diskutieren möchte. In diesem Fall wird das Wort „philosophisch“ als deutlicher Hinweis dafür verwendet, um sein Gegenüber darauf vorzubereiten, dass die Gesprächskultur einer sich ankündigenden Diskussion ein gewisses Niveau jedenfalls nicht unterschreiten sollte. Aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet, ist dieses mehr oder minder brotlose und folglich schwer zu kapitalisierende Business des Philosophierens im 6. Jahrhundert v.Chr. im antiken Griechenland entstanden. Alleinstellungsmerkmal, oder in Expertensprache formuliert, der USP dieser Denkdienstleistung ist der Versuch, die Welt und die menschliche Existenz zu deuten und zu verstehen. Eine klare Abgrenzung zu anderen Gebieten von Forschung und Lehre ergibt sich schon dadurch, dass es zwar einen klaren Markenkern gibt und inhaltlich alles und nichts besprochen werden kann, aber nicht muss. In unser aller Wissensdatenbank Wikipedia, die ich gerade am Flughafen Köln sitzend per Mausklick aktiviere, kann zur Präzisierung nachgelesen werden: “Viele Menschen betreiben Philosophie um ihrer selbst willen: um sich selbst und die Welt, in der sie leben, besser zu verstehen; um ihr Handeln, ihr Weltbild auf eine gut begründete Basis zu stellen. Wer ernsthaft philosophiert, stellt kritische Fragen an die ihn umgebende Welt und lässt sich im Idealfall nicht so leicht täuschen oder manipulieren.” Ob dieser Erkenntnis bin ich mir sicher, dass wir alle irgendwie Philosophen sind, irgendwo lebend im Schatten von so großen Denkern wie Aristoteles, Cicero, Platon oder in jüngeren Tagen einer Hannah Arendt.
In den Alltag übersetzt könnte eine praktikable und einfach zu lebende Botschaft lauten: “Ihr Menschen da draußen, denkt – egal wie, aber denkt!” Beim Lesen von Nachrichten, was sich so rund um die Welt ereignet, erschließt sich mir häufig, dass die nicht geleistete Denkarbeit, und die damit verbundenen Folgen für die Gesellschaft, wenig verheißungsvoll ist. Ich beobachte seismographisch, dass die Schöngeistigkeit so oft mit Füssen getreten wird. Will heißen, gehaltvolle Debatten mit ein wenig Herausforderung für den Verstand treten allzu oft in den Hintergrund, intellektuelle Seichtigkeit statt geistigem Tiefgang scheinen ein Merkmal unseres erst jungen neuen Jahrtausends geworden zu sein. Deshalb versuche ich unentwegt Fragen, die mich beschäftigen, zu artikulieren und im Diskurs mit anderen auch Erklärungen und Antworten zu finden. Ob diese dann falsch oder richtig sind, sei dahingestellt. Aber mein Bemühen, mich auch als Alltagsphilosoph zu beschäftigen, nährt mein unermüdliches Interesse, in die Unendlichkeit von Wissen und Geist, in alle Facetten menschlichen Daseins vorzudringen. Das kann sich mitunter für mein Umfeld sehr lästig, aber auch exotisch und fremd anfühlen.
Ort des Geschehens, der diesen Nachdenkprozess initiiert hat, ist die Hauptstadt des deutschen Karnevals, exakter deren Hauptbahnhof. Die Schlange vor der Kasse eines Supermarktes ist nicht enden wollend. Frauen und Männer, Junge und Alte warten in einer ewig langen Schlange, um ihre Waren bezahlen zu können. Plötzlich betreten zwei Typen die Szenerie und kommen neben mir zu stehen. Die beiden Burschen, um die 30 Jahre alt, werfen mit Kraftausdrücken nur so um sich. In Jogginghosen, T-Shirts und Turnschuhen gekleidet, setzen sie einen auffälligen stylischen Impuls, einen wahren Hingucker. Insbesondere einer der beiden, der sich am Samstag Nachmittag im Farbspektrum Pink bis Gold vor mir inszeniert. Die jungen Männer erinnern mich vom Typ her an jene Gruppe aus dem Wuppertal, die sich gerne in ihrer Freizeit als selbsternannte Sharia Police aufopfernd um Mitmenschen kümmert. Die beiden Glatzköpfe mit Vollbart beginnen einen Dialog, der mit dieser megacoolen Phrase “Ey alda” nach jedem Satz angereichert wird. Der eine spricht zum anderen und schlägt dabei unentwegt mit der geballten Faust in seine Handfläche: “Dreckiger Bastard. Ey alda. Zuerst beleidige ich seine Mutter. Ey alda. Dann bekommt er eine in die Fresse. Ey alda. Dann ficke ich seine….”. Meine intuitive Reaktion, dass die beiden Halbstarken den Pfad der Integration noch nicht gänzlich absolviert haben, könnten mich als eine Person erscheinen lassen, die vorschnell urteilt. Aber der Dialog, zu dessen unfreiwilligem Augen- und Ohrenzeuge ich geworden bin, geht munter weiter. Bis mich einer der beiden, meinen Anzug musternd, plötzlich abfällig anmault: “Philosophenarsch, tritt zu Seite!” um sich dann an mir vorbei zur Kassa vorzudrängen. Ich denke mir nur “Ey alda, werde du mal Philosophenarsch, dann gehe ich mit dir in einen Shop und kaufe mir in deinem gepflegten Umgangston eine pinkfärbige Jogginghose. Ey alda, du verstehst, oder?“