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Joy to the World!

Um diese Jahreszeit werden wir immer mit großen Weihnachtsspendengalas erfreut.  War das heuer schon? Ich hab keine Ahnung, aber das Setting wiederholt sich ohnehin Jahr für Jahr:  Afrika ins Wohnzimmer. Und Joy to the World!  Frau Carmen Nebel führt durch den Abend. Mit Glitzerpaillettenkleid. Und Tremolo in der Stimme an den richtigen Stellen. Sie blenden herzzerreißende Bilder ein von hungrigen afrikanischen Kindern mit Wasserbäuchen. Die Klitschkobrüder, Veronika Ferres und Sido und weiß Gott noch wer sitzen am Spendentelefon. Und dann überreichen Männer im dunklen Anzug mit stolzgeschwellter Brust überdimensionale, unhandliche Schecks und es laufen ihnen Schauer über den Rücken vor lauter Selbstgefälligkeit, wenn sie den Namen ihres Unternehmens nennen dürfen und alle im Publikum applaudieren  bei so viel  Social und Global Responsibility. Stop, jetzt bin ich wirklich ungerecht. Die Leute spenden Jahr für Jahr großzügig. Und das ehrt sie ja auch. Wir geben gerne angesichts des Leides,  um uns danach besser zu fühlen und um unser Gewissen zu beruhigen und die bedrückenden Bilder dieses Elends wieder eine zeitlang ausblenden zu dürfen.

Nur – es funktioniert leider nicht! Ausblenden ist retro! Nachdenken ist angesagt! Diese „Mitleidindustrie“ läuft doch nur deswegen wie am Schnürchen, weil der Schuldkomplex des Westens gegenüber Afrika so tief sitzt. Es ist zum Beispiel ein trauriges Faktum, dass Spendengelder Kriege verlängern und nicht selten dazu beitragen, neue Konflikte herauf zu beschwören. Denn ein nicht unerheblicher Teil der Hilfsgüter und Spendengelder fällt in Staaten wie Somalia in die Hände blutrünstiger Warlords. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen geben sogar offen zu, dass sie Schutzgelder an korrupte Machthaber bezahlen, um in Krisengebieten überhaupt agieren zu dürfen und werden damit ungewollt zu Systemerhaltern. Es ist ebenso ein Faktum, dass in Afrika im Sekundentakt Kinder sterben, weil wir Europäer mit Milliarden von Euro unsere Agrarindustrie subventionieren und damit der afrikanischen Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln den Boden unter den Füßen wegziehen. So schaut´s aus! Es ist zum Heulen, aber die Ungerechtigkeit ist systemimmanent.

Im Jahr 1990 entstand nach einem Roman von William Nicholson der Film “Der Marsch”. Der von Regisseur David Wheatley gedrehte Film ist ein Plädoyer für mehr Einsatz der Industrieländer für die Entwicklungsländer. Er geht von einer unbestimmten Zukunft aus, in der aufgrund des Klimawandels große Teile Afrikas unbewohnbar geworden sind und in Europa die rassistischen Spannungen zugenommen haben. Das zugespitzte Szenario: Millionen Afrikaner machen sich aus Flüchtlingslagern auf den Weg nach Europa. Ihre Botschaft: „Wir sind arm, weil ihr reich seid. Jetzt kommen wir zu euch, damit ihr uns sterben seht.“ Alles Fiktion? Ich fürchte nicht. Vor kurzem habe ich in Bonn einen Vortrag von Rupert Neudeck, Gründer der HilfsorganisationCap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. gehört. Der Journalist ist überzeugt, dass die im Film gewählte Überzeichnung des Themas heute längst von der Realität überholt wurde. 18 Millionen junger Afrikaner sind derzeit auf Wanderschaft, auf der Suche nach einem besseren Leben, auf dem Weg auf einen Kontinent, den sie nicht Europa, sondern Schengen nennen. Schengen ist für sie das Versprechen des Glücks, früher war das Amerika. Und sie werden nur  dann in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie eine Qualifikation erworben haben, die es ihnen ermöglicht, ein besseres Leben aus eigener Kraft führen zu können. Die Frage ist: Wie schaffe ich die notwendige Infrastruktur, die Wirtschaft und somit Wachstum entstehen lässt? Wer baut die dringend notwendigen Straßen, wer investiert in die Schieneninfrastruktur oder in Telekommunikation? Welche Rolle Europa in diesen Strategien spielen wird, bleibt fraglich. Die globale Problemlösungskompetenz, die die EU in den letzten Wochen und Monaten an den Tag gelegt hat, gibt nicht viel Anlass zur Hoffnung.

In seinem 2011 erschienenen Buch „Eine bessere Welt unternehmen” beschreibt der Initiator und Leiter des GENISIS Institute for Social Innovation and Social Impact Strategies, Peter Spiegel, eine Vielzahl faszinierender Möglichkeiten, wie gängige Strategien neu gedacht werden könnten. Können wir uns ein Energieunternehmen vorstellen, das sich auf die Komplettversorgung der Armen in der Welt mit Solarenergie spezialisiert, dabei ohne Subventionen auskommt und schneller expandiert als jedes andere Solarenergieunternehmen? Können wir uns ein Gesundheitsunternehmen vorstellen, dass die Kosten für die Operation von Grauem Star um 95 Prozent reduziert und gleichzeitig in puncto Qualität Weltspitze wird, das 60 Prozent seiner Dienstleistungen für seine über 2,5 Millionen Klienten jährlich schlicht verschenkt und am Ende trotzdem noch 25 Prozent Kapitalrendite erwirtschaftet? Solche Unternehmen gibt es bereits. Dahinter steht, so der Autor, ein grundlegend neues System, eine Wirtschaft im Dienst der Menschheit, in den sogenannten Entwicklungsländern wie in unseren Industriegesellschaften. Das klingt für Sie idealistisch und blauäugig? Für mich auch. Aber ich habe derzeit keinen besseren Vorschlag. Ich weiß nur, dass uns die Antriebsfeder des derzeitigen Systems, nämlich das Habenwollen, dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind. Und dass wir mit dem Prinzip des ewig wachsenden Kapitalismus bald aus der Kurve fliegen werden.  Und um mit Roland Düringer zu sprechen: Darüber sind wir verdammt wütend.
(http://www.youtube.com/watch?v=axvjKgV1XTA)