You German, you Hitler-Nazi!
Am Wochenende beherrschte neben der Kongressabstimmung über Obamas Gesundheitsreform eine rückwärtsgerichtete Debatte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Michelle McGee, die Frau, die Sandra Bullock den Mann abspenstig machte, schockte mit Nazi-Fotos die Öffentlichkeit! Als ich diese Debatte in den Medien mitbekam, war ich gerade auf dem Weg von New York nach Washington. Zu den obersten verbriefen Rechten im Land der freien Meinungsäußerung gehört es also, dass man sich als Nazi deklarieren darf. Die unbegrenzten Möglichkeitentreiben treiben auch solche Blüten! Befremdlich, wie ich finde! Ich war über den Anblick der Zeitungsbilder schockiert, vor allem aus der Perspektive eines Menschen, der immer klar wusste, zu welcher Seite er ideologisch gehört und zu welcher nicht. Und der sich auch selbst immer gegen braunes Gedankengut stark gemacht hat. Ich war angewidert: Wer in dieser abstoßenden Form die Schrecken des Holocaust verhöhnt, der hat historisch rein gar nichts verstanden und sollte seine Denkmuster unter Aufsicht eines professionellen Experten reflektieren!
Zurück in New York hatte ich dann gestern Vormittag ein Erlebnis, dass mir sprichwörtlich den Atem nahm! Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ich sitze in einer Studiengruppe, bestehend aus einer Brasilianerin, einem Brasilianer, einem Türken, einem Lybier, einer schwedischen Professorin und meiner Wenigkeit. Die lebhafte Diskussion drehte sich darum, welche Differenzierungsmerkmale die Herkunftsländer der anwesenden Studierenden in gesellschaftspolitischer Hinsicht aufzuweisen hätten. Als mein Studienfreund aus Lybien die politische Struktur seines Landes beschrieb, entstand eine sehr engagierte Debatte. Als ich mich zum ersten mal zu Wort meldete, bildete ich mir ein, im entstandenen Gemurmel das Wort „Nazi“ gehört zu haben. Bei meinem nächsten Statement nahm mein lybisches Gegenüber seinen Notizblock und malte eine Hakenkreuz darauf, hielt es mir entgegen und sagte, ich habe meine Mund zu halten bei politischen Debatten, um seine Aussage mit den Worten „You German, you Hitler-Nazi!“ gipfeln zu lassen!
Man muss sich das vorstellen, da bist du in einem fremden Land, wir schreiben das 21. Jahrhundert, du bist ein Kind der Nachkriegsgeneration und man attestiert dir, dass du ob deiner deutschen Sprache ein Hitler-Nazi bist! Sprachlosigkeit! Nach einer Schrecksekunde klärte ich in sehr heftigen Worten mein Gegenüber darüber auf, dass ich zwar die deutsche Sprache als Muttersprache habe, aber ein Österreicher bin. Betretenes Schweigen bei meinem Gegenüber, er dachte, wer deutsch spricht sei automatisch Deutscher und somit ein Nazi! Ich weiß, dass diese Pauschalisierung nicht mir persönlich galt und doch trifft es einen wie ein Hammerschlag, wenn man aufgrund irgendwelcher nationaler Stereotypen und verzerrter Klischees abgeurteilt wird. Ich habe ein wenig recherchiert: 2004 führte das Forsa-Institut eine Umfrage in amerikanischen Großstädten durch zu Assoziationen mit Deutschland. Den Befragten fiel als erstes der Nationalsozialismus ein, dann Bier und Sauerkraut. Hitler war laut dieser Befragung noch immer der bekannteste Deutsche, gefolgt von Gerhard Schröder, Helmut Kohl und Ludwig van Beethoven. Ja, und wenn ein deutscher den Oscar erhält, dann passt Christoph Waltz in der Rolle des Parade-Nazis bestens ins Konzept.
Meine Lehre aus dieser befremdlichen Erfahrung: Auch wenn wir es manchmal überdrüssig sind, immer wieder auf die Greueltaten des Naziregmies hinzuweisen. Wir dürfen keine Chance auslassen, um in differenzierter Form eine Basis des Diskurses und der Aufklärung über das dunkelste Kapitel unserer Geschichte zu finden! Wenn man plötzlich selbst Opfer eines Vorurteils wird, wird einem diese Notwendigkeit mit einem Schlag wieder schmerzlich bewusst.