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Hartzer oder Self Made Man?

Mein Weg hier in New York führt beinahe täglich an der Grand Central Station vorbei. Dort steht ein dunkelhäutiger Mann, der die Menschen um Geld bittet. Er steht da und sagt lautstark: „Ich hatte großes Pech, ich brauche Geld und ich nehme alles was ihr mir geben könnt. Und wenn ihr nichts habt, dann bin ich euch auch nicht böse!“ Ich sage ganz bewusst nicht anschnorrt oder anbettelt, sondern bittet, denn er tut es irgendwie in einer würdevollen Art, in der er sich trotz seiner prekären Situation seine menschliche Größe bewahrt hat. Das hat mich beeindruckt und auch nachdenklich gemacht. Man muss sich nicht klein machen, sich nicht erniedrigen, man kann sich auch in einer scheinbar ausweglosen Situation seine Würde und sein Selbstwertgefühl bewahren. Und obwohl dieser Mann im Augenblick auf der untersten Stufe der sozialen Leiter steht, hatte ich das Gefühl, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen möchte. Und genau dieses „sein Leben selbst in die Hand nehmen“ ist hier allerorts greifbar und spürbar.

Bei der Einweisung an der Uni zum Thema „Leben am Campus“ hat der Rektor erklärt, wenn ein Amerikaner ein Krankenhaus aufsucht, muss schon ein Körperteil abgetrennt, ein schwerer Bruch oder sonst eine Krankheit vorliegen, damit einen der behandelnde Arzt ausdrücklich ins Krankenhaus schickt. Und beim Arzt landet der, der sich selbst mit Medikamenten aus dem Supermarkt nicht selbst heilen kann. Ich behaupte nicht, dass ich dieses System gutheiße. Aber es sagt doch etwas aus über die Verantwortung der Leute gegenüber sich selbst, schnellstmöglich wieder zu gesunden und der Verantwortung gegenüber einem Gesundheitssystem, das nicht ausgenutzt werden soll. Der Vergleich mit vielen Österreichern, die sich bei leichtem Halskratzen krank schreiben lassen, drängt sich da schon auf. Ich möchte auch auf keinen Fall die Klischees vom Self-Made-Amerikaner und dem sozialschmarotzenden Europäer bemühen. Aber ein System, das es einem erlaubt, Arbeit abzulehnen, weil man auch ohne ganz gut leben kann oder sich wegen Lappalien teure Medikamente verschreiben zu lassen, schürt einfach eine gewisse Versorgungsmentalität.
Es geht mir um die Einstellung der Menschen hier, die aus meiner Sicht von einer großen Selbstständigkeit und einem Ehrgeiz geprägt ist, die ich in dieser Form aus Europa nicht kenne. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wird uns seit Jahrzehnten eingetrichtert, dass man nicht seines eigenen Glückes Schmied ist, sondern vom Staat versorgt werden kann. Dass der Staat dafür Sorge tragen muss, dass es dem Einzelnen gut geht und es “gerecht” zugeht. Aber aus meiner Sicht ist Gerechtigkeit doch nicht, wenn jeder das Gleiche bekommt. Gerechtigkeit ist, wenn jeder bekommt, was er sich erarbeitet, was er “verdient”. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich müssen diejenigen, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können, Unterstützung bekommen. Doch für soziale Trittbrettfahrer reichen die Budgets nicht mehr aus. Und diese Aufspaltung der Gesellschaft in die “kleinen Leute” und die da oben geht voll und ganz auf das Konto der Politik, die Neid anstatt Bewunderung schürt.

Ein Synonym für diese Entwicklung ist für mich, dass das Verb „hartzen“ im Münchner Verlagshaus des Wettbewerbsinitiators Langenscheidt von einer Jury als Jugendwort 2009 ausgezeichnet wurde. „Wenn man Jugendliche fragt, was wollt ihr werden, antworten sie: Ich werde Hartzer“, hat der Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln neulich gesagt. Diese kaum erstrebenswerte Art des Broterwerbs wird anscheinend auch jenseits sozialer Problemstadtteile zusehends populär. Eine erschreckende Tendenz wie ich finde und ein unglaublicher Kontrast zu dieser großartigen Stadt, in der ich zurzeit Gast sein darf. Hier gibt es viele Leute, die zwei oder drei Jobs annehmen und Tag und Nacht arbeiten, um sich das Leben in New York City leisten zu können. Auch wenn diese Art von Leben sicher nicht immer einfach ist, bewundere ich die Mentalität dieser Menschen, mit der sie Rückschläge wegstecken, neue Wege gehen, Verantwortung für sich und andere übernehmen und sich selbst immer wieder neu erfinden.