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Mit kleinen Gesten Großes bewirken, um Schlimmes zu verhindern.

Der völlig in Vergessenheit geratene französische Schriftsteller Sully Prudhomme (1839 – 1907) war 1901 der erste Nobelpreisträger für Literatur. Ich kann folgendes Zitat nicht mehr genau wiedergeben, aber in einem seiner Gedichte schrieb er von der “Folter der Seele” im Stadium des Wartens zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Wenn ich aktuelle Nachrichten konsumiere, bin ich immer wieder sprachlos, was Menschen aus Verzweiflung getan haben oder bereit sind zu tun.

Vor einigen Jahren habe ich in einer holländischen Zeitung eine mich nachdenklich stimmende Geschichte gelesen. Eine nicht real existierende Produktionsfirma suchte Kandidaten für ein neues TV-Format. In Kleinanzeigen wurde nach Menschen gesucht, die vor laufender Kamera in einer Liveshow außergewöhnliche Dinge tun würden. Der Rücklauf an Vorschlägen war enorm. Der vermeintliche TV-Sender entschied sich kurzerhand dafür, eine Büroetage zu mieten und jene Personen zu einem Casting einzuladen, die wirkliche Quotenbringer eingesendet hatten. Ein türkischer Gemüsehändler aus Berlin hatte angeboten, dass er sich live vor Publikum einen Finger abhacken würde, da er über 300.000 Euro an Schulden hätte und keine Chance, jemals das Geld zurückzubezahlen. Seine Verzweiflung war mittlerweile so groß, dass er nahezu alles tun wollte, um von dieser persönlichen Last befreit zu werden. Mann muss sich das einmal bildlich vorstellen: die Lichter in einem Studio gehen an, die Musik erklingt, Publikum applaudiert, ein Moderator stellt Fragen, der Kandidat antwortet, in einer Hand schwingt ein kleines Beil, ein Hackstock komplettiert das Bild. Und dann? Schnitt! Es wurde ernsthaft überlegt, diese Show stattfinden zu lassen, eine Ethikkommission hat das dann in letzter Minute verhindert.

Gestern titelte der Österreichische Rundfunk (ORF) auf seinem Internetportal “Arbeitsunwillig: Mann schnitt sich linken Fuß ab”. Ich kann die Hintergründe nicht beurteilen, der Mann liegt im künstlichen Tiefschlaf, geredet hat wahrscheinlich noch niemand mit ihm, aber gut ist, dass die Medien wieder mal über Antworten verfügen, ohne Fragen gestellt zu haben. Im Bericht* steht weiter zu lesen: “Gegen 6.00 Uhr präparierte er im Heizraum seines Hauses eine Kappsäge – eine elektrisch betriebene Säge mit rotierendem Sägeblatt, die oft zum Schneiden von Holzstücken verwendet wird. Diese stellte er auf zwei Sessel. Er befestigte den Schalter mit einem Kabelbinder und entfernte die Schutzvorrichtung. Laut Polizei muss er dann im Stehen sein linkes Bein gegen das rotierende Sägeblatt gehalten haben. Knapp oberhalb des Knöchels setzte er das Sägeblatt an und schnitt sich den linken Fuß ab. Um sicherzugehen, dass das Bein auch nicht mehr angenäht werden kann, warf er den Fuß in einen Ofen. Dann schleppte er sich in die Garage und wählte den Notruf.” Ich kann den Wahrheitsgehalt nicht bewerten, aber die Frage stellt sich, was geht in einem Menschen vor, der das tut? Macht das wirklich jemand, nur weil er zu „faul“ ist, um einer geregelten Arbeit nachzugehen?

Kommt es nur mir so vor, oder liest man immer häufiger von extremen Handlungen, die Menschen in offenbar ausweglosen Situationen sich und anderen antun? Oder nimmt man Ereignisse wie diese in der heutigen Welt einfach häufiger wahr, weil es unzählige Informationsquellen gibt, die einen mit “schrecklichen” Nachrichten versorgen? Ich kann es nicht beurteilen. Am Vormittag habe ich mit einem mir bekannten Journalisten die Frage diskutiert, ob man nicht eine groß angelegte Initiative gegen Einsamkeit von Menschen starten sollte. Die Initiierung einer realen Plattform, die Leuten Hoffnung gibt und sie im positiven Sinn vernetzt. Das würde wahrscheinlich nicht die ökonomischen Probleme vieler Betroffener lösen. Aber da oder dort könnte eine emotionale Anteilnahme, ein aufeinander Zugehen in schwierigen Lebensphasen mit kleinen Gesten Großes bewirken, um Schlimmes zu verhindern.

* http://steiermark.orf.at/news/