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Von Geschichten des Alltags

Zu viel an Rotwein und zu wenig Schlaf sind keine gute Kombination, dachte ich mir heute morgen, als ich mich nach 2 Stunden Nachtruhe aus dem Gästebett in Dieters Wohnung erhob. Es sind immer die langen Dienstag Abende, in einem mir sehr vertraut gewordenen Kulturverein in Bonn, wo es mittlerweile zur Tradition gehört, dass die Abende so lange hinausgezögert werden, bis die Stunden der Nacht nahezu aufgefressen sind und es im Normalfall klüger wäre, das Bett gar nicht mehr heimzusuchen. Kurz nach 5 Uhr verlassen wir die Wohnung, um die nahegelegene Bushaltestelle, vis-à-vis vom Eingang zum ehemaligen Irrenhaus der Stadt, zu erreichen. Es sind vielleicht 5 Minuten Fußmarsch, um dort in den Bus zum Flughafen einsteigen zu können. Mehr oder minder spannende Dialoge zwischen mir und meinem Freund verkürzen den Weg.

Es ist trotz Sommerzeit noch immer gleich finster wie bei meinem letzten Besuch Ende Jänner, dafür sind die Außentemperaturen ordentlich gestiegen. Als wir uns der Bushaltestelle nähern, fällt mir ein Taxi auf, die Türe rechts hinten ist geöffnet, der Wagen parkt vor dem Busfahrplan, eine Person steht gebückt davor und scheint etwas zu suchen. Wir stehen mittlerweile am Gehsteig. Vor uns die für den Bus vorgesehene Ausbuchtung, um Passagiere zusteigen lassen zu können. Mein Blick ist Dieter zugewandt, wir reden über den Businessplan für die Geschäftsidee eines gemeinsamen Freundes, an dem ich gerade arbeite. Plötzlich erhellt eine Frauenstimme die Dunkelheit. “Macht ihr schon um diese Tageszeit Business?” sind die Worte einer sportlich gekleideten Frau um die Vierzig. Nahezu ein wenig verlegen, mit ironischem Unterton sagen wir, dass das für uns eine typische, der Uhrzeit angepasste Diskussion sei. Ein unterhaltsames Gespräch entsteht. Die langhaarige Blondine, Typ chaotisches Energiebündel, erzählt uns, dass sie schon an anderer Stelle der Stadt versucht hätte, den Bus zum Flughafen zu erreichen, dieser aber nicht gekommen und sie nun froh sei, von einem Taxi chauffiert, die richtige Haltestelle gefunden zu haben.

Im Bus sitzend sprechen wir über alles mögliche, die gebürtige Nürnbergerin, wie wir mittlerweile erfahren haben, ist auf dem Weg nach Leipzig, wo sie wohnt. Sie erzählt uns, dass sie im Bereich der Kunst tätig sei und gestern Abend einen Auftritt in der ehemaligen Bundeshauptstadt Deutschlands hatte. Ganz fachkundig reden wir über Theaterperformance, Dieter macht einen kleinen Exkurs zum Thema passend und erzählt vom *Label Rimini Protokoll. Unter dieser Marke hat sich eine Theaterform etabliert, die nicht Laien sondern Experten des Alltags ins Zentrum stellt. Die Künstlerin ist beeindruckt, die kurzweiligen 20 Minuten Fahrt zum Flughafen sind vorbei. Wir verlassen den Bus, fahren die Rolltreppe zum Check-in hinauf, plötzlich sagt die uns vom Namen her unbekannte Frau mit erschrockener Stimme: “Ich habe eine meiner Taschen im Bus vergessen.” Sie hatte ursprünglich insgesamt vier bei sich, aber das zu besprechen wäre eine andere Geschichte. Dieter stürmt los, die Rolltreppe runter, raus auf den Parkplatz, wir können ihn gut im Scheinwerferlicht beobachten, sein langer schwarzer Mantel schwebt durch die Geschwindigkeit seiner Schritte wie der Umhang eines edlen Ritters im Wind. Erleichtert freut sich die nicht groß gewachsene Dame, als sie sieht, dass der Bus öffnet und Sekunden später der Retter ihres Gepäckstückes wieder auf dem Weg zurück zu uns ist. Mit großer Freude wird die Tasche in Empfang genommen, der Held, der die Tasche der Besitzerin überbracht hat, ebenso. Es folgen noch ein paar kurze Sätze, unsere Kurzzeitbegleiterin verabschiedet sich herzlichst und verschwindet lächelnd hinter der Sicherheitskontrolle.

Mich faszinieren die vielen Kurzgeschichten, die man unvermutet erlebt, wenn man viel auf Reisen ist. Man begegnet Menschen, die man sonst wahrscheinlich nie kennen gelernt hätte und wird für einige Augenblicke aus seiner gedanklichen Welt, aus dem vertrauten Alltag in neue (Gedanken-)Welten entführt. Mit Dieter bespreche ich mittlerweile wieder den Businessplan unseres Freundes, während er mir mit seinen Blicken zugewandt nochmals das Erlebte mit den Worten: “Für heute habe ich meine pfadfinderische Pflicht erfüllt.” kommentiert. Es ist mittlerweile kurz nach 6 Uhr, es erfolgt eine freundschaftliche Verabschiedung, und ich reihe mich in die Schlange vor der Sicherheitskontrolle ein. Ich bin gespannt, was der heutige Tag noch bringen wird. Ganz sicher eine Begegnung mit einem alten Schulfreund am Abend, und ich freue mich schon jetzt auf neue Geschichten.

* http://www.rimini-protokoll.de/