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Wegweisendes Zitat

Die letzten Tage haben mir ein altes Sprichwort in Erinnerung gerufen: „Wer abends feiern kann, kann am nächsten Morgen auch arbeiten!“ Diese Lebensformel wurde mir schon in früher Kindheit eingetrichtert und vorgelebt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal einer Verpflichtung oder einer Aufgabe nicht nachgekommen wäre, nur weil ich für mich keine überzeugenden Argumente gefunden hatte, mich früher zur Ruhe zu begeben. Ich liebe Tag und Nacht gleichermaßen und nicht einmal der bereits eingeläutete Lebensabschnitt, in welchem meine Vergangenheit langsam beginnt die mir verbleibende Zukunft zu überholen, hat an meinen Prinzipien etwas geändert. Jetzt gehöre ich ja nicht zu jener Gruppe, die permanent Handlungen aus der Angst heraus setzt, etwas versäumen zu können, aber mir ist es noch immer lieber, dass ich an einem 24 Stunden Tag gefühlte 36 Stunden gelebt habe: denn ich habe mich innerlich nicht auf ein Lebenskonzept verständigt, wonach es ohnedies egal wäre, ob ich schon tot oder noch lebendig bin. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich halte an dieser Stelle kein Plädoyer für ein Leben im Geschwindigkeitsrausch, sondern dafür, sich am vermutlich nicht weiter verhandelbaren Dasein im Hier und Jetzt zu erfreuen.

Die Annullierung eines Fluges hat mir deutlich mehr Wartezeit beschert, als ich möchte. Bei einem Kaltgetränk sinniere ich über das Erlebte der letzten Tage, während mein Blick auf das Rollfeld des Flughafens Frankfurt gerichtet ist. Nahezu eine Woche bin ich jetzt „on tour“ gewesen. WienKölnWienBerlinBukarestBerlinGrazKlagenfurtWienRomFrankfurtBerlinWien, so lautete die Reiseroute der vergangenen Tage. Den Großteil dieser Städte habe ich schon vielfach bereist, in Graz und Wien habe ich Wohnsitze. In Bukarest, auch das Paris des Ostens genannt, bin ich erst zum zweiten Mal in meinem Leben gewesen. Begegnet man der rumänischen Hauptstadt mit Vorbehalten, dann wird Mann oder Frau sehr viele Anhaltspunkte finden, die noch immer an die Schreckensherrschaft des Nicolae Ceaușescu erinnern, den letzten Diktator, von dem ein unterdrücktes und gepeinigtes Volk 1989 erlöst wurde. Dass es Generationen brauchen wird, bis Geist und Kultur dieser nun in Freiheit lebenden Menschen äußerlich wie innerlich einen sichtbaren Wandel vollzogen haben, ist evident. Was mich wirklich überwältigt hat, das ist die Herzlichkeit und Großzügigkeit meiner Gastgeber des am Schwarzen Meer gelegenen Landes. Die Tische haben sich vor Essen gebogen, Getränke aller Art gab es reichlich, diskutiert wurde vorbehaltlos und stundenlang und dennoch oder gerade deshalb erzielten wir konkrete Ergebnisse, vereinbarten Projekte für die Zukunft, finalisierten Vorhaben.

Mich haben die erlebten Zugänge und Begebenheiten an eine Zeit erinnert, die wir in unseren durchorganisierten und bis zum Anschlag durchoptimierten Breiten zu meinem Bedauern scheinbar überwunden haben. Wo gibt es heute noch ungezwungene, uneigennützige und sachorientierte Debatten, bei welchen der Großteil der Anwesenden nicht darauf achtet, erstens für nichts verantwortlich zu sein, zweitens im Nachhinein alles schon gewusst zu haben, was sich davor intellektuell nicht erschlossen hat, und drittens nur danach Ausschau zu halten, wie man sein Gegenüber übervorteilen kann. All diese scheinbaren Debatten finden vorwiegend in klimatisierten und sterilen, abgedunkelten Räumen statt, deren Interieur gleich uniform und austauschbar erscheint, wie jene Menschen, die bis auf einige wenige im System genötigt werden, lähmende Inhaltsleere und freundliche Unverbindlichkeit über sich ergehen zu lassen. Im Heimatland des Dracula haben wir in gegenteiliger Atmosphäre nicht nur intensive Gespräche und differenzierte Diskussionen geführt, sondern auch das Leben nach vollendeter Arbeit nicht zu kurz kommen lassen. In einer zeitgemäßen Abwandlung müsste das eingangs erwähnte Zitat lauten: „Nur wer abends reichlich feiern kann, kann am nächsten Morgen auch wirkungsvoll arbeiten“. Was denken Sie?