Lebenserfreuende Prioritäten
Es muss 1986 gewesen sein, als ich meinen ersten Computer gekauft habe. Der Zufall wollte es, dass ich sozusagen ein Apple-Jünger der früheren Stunde gewesen bin. Der Händler, den ich kannte, vertrieb nur diesen aus heutiger Sicht vorsinnflutlichen Blechtrottel, der eigentlich aus Kunststoff war. Ein in grau gehaltenes Gehäuse mit hochformatigem Bildschirm war ab diesem Zeitpunkt mein neues Arbeitsgerät. Die Marke mit dem angebissenen Apfel interessierte mich wenig, auch nicht deren Eigentümer. Erst mit der Zeit wusste ich, dass Steve Jobs der geniale Kopf hinter der 1976 gegründeten Computerfirma war. Vertrauter wurde mir der 1955 in San Francisco geborene Mitgründer und langjährige CEO von Apple Inc, als ich in einem Magazin einen von ihm auf der Stanford University gehaltenen Vortrag nachgelesen habe. Aus meiner Sicht hielt er dort 2005 vor Studenten eine denkwürdige Rede. Er sprach nicht über Innovationen, sondern über das Menschsein.
Seine Worte beschrieben das, was ihn antrieb, bewegte, und das, was er fühlte. Seine Ansprache hielt er übrigens zu einem Zeitpunkt, wo er davon ausgegangen war, vom Krebs geheilt zu sein: “Ich hatte die Operation und bin nun gesund. Da war ich dem Tode am nahesten gekommen und ich hoffe, das wird auch so bleiben für die nächsten Jahrzehnte.” Leider hat sich diese Hoffnung am 5. Oktober des letzten Jahres zerschlagen. Er erzählte den Studenten insgesamt drei Geschichten, seine letzte Geschichte handelte vom Tod, die so begann: “Als ich 17 war, las ich ein Zitat das ungefähr so klang. Wenn du jeden Tag so lebst, als wäre es dein letzter, wird es höchstwahrscheinlich irgendwann richtig sein.” Seine Erkenntnis daraus präzisierend: “Seit über 33 Jahren habe ich jeden Morgen in den Spiegel geschaut und mich selbst gefragt: Wenn heute der letzte Tag in meinem Leben wäre, würde ich das tun, was ich mir heute vorgenommen habe zu tun?“ Er beantwortete seine ihm selbst gestellte Frage mit “Und jedes Mal, wenn die Antwort nein war für mehrere Tage hintereinander, wusste ich, ich muss etwas verändern.” Sollten wir uns eine Frage wie diese nicht öfter mal stellen?
Vorgestern habe ich den Vorabdruck von einem Buch gelesen, das am heutigen Tag in unserem Sprachraum erstmalig veröffentlicht wird. Im Marion von Schröder Verlag erscheint unter dem Titel “Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter” die deutsche Ausgabe eines Bestsellers, der im Herkunftsland England “Mum’s List” heißt. Die Publikation erzählt die Geschichte der krebskranken Kate, die kurz vor ihrem Tod noch eine Liste für ihren Mann anfertigt, mit all dem, was ihr für die Zukunft der Kinder wichtig erscheint: „Bring ihnen bei, pünktlich zu sein. Hilf ihnen immer, wenn sie dich darum bitten. Lass sie nicht Motorrad fahren. Geh mit ihnen Glücksklee suchen. Feiert die Geburtsage immer groß. Zeig ihnen das Nordlicht. Verabschiedet euch immer richtig von einander, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Gib den Jungs zwei Küsse, wenn ich nicht mehr bin – einen von dir, den zweiten von mir.“ Mehr als 100 Wünsche und Bitten waren es am Ende, die die sterbende Mutter hinterlassen hatte. Dieses Tagebuch, das von ihrem Mann St John Greene dokumentiert wurde, geht unter die Haut, eine das Herz berührende Geschichte.
Sowohl in den Worten von Steve Jobs, als auch in der Liste von Kate Greene wird so viel Bedeutsames und für das Leben tatsächlich Wichtige auf den Punkt gebracht. Geschätzte Leser meiner kleinen Kolumne, stellen Sie sich doch einmal ein paar Fragen, die vielleicht so lauten könnten: Was machst du mit einem Leben, das du nie gelebt hast, was machst du mit all den Träumen, die du nie verwirklicht hast, was machst du mit all den Hoffnungen, die du nie versuchst hast zu realisieren – wenn du merkst, dass es irgendwann zwischen Leben und Tod keine verhandelbaren Optionen mehr gibt? Oder in Anlehnung an “Mum’s List”, was ist das für ein Leben, wenn du nie mit dem Herzen gesprochen hast, wenn du nie deinem Umfeld Werte vermittelt hast, die das eigene Dasein lebenswerter, einfühlsamer und schöner werden lassen? Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie im von Terminen und Anforderungen dominierten Alltag solche Herangehensweisen oftmals zu kurz kommen. Über die persönliche Liste der lebenserfreuenden Prioritäten sollten wir dennoch öfter mal nachdenken und sie noch öfter im Alltag umsetzen!