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Maßstab

Der übervolle Saal verdunkelt sich, ein Musiker nach dem anderen betritt die Bühne, ein Orchester formiert sich. Die ersten Töne durchdringen den Raum, dann erscheint er, im dunkelblauen Smoking mit rotem Innenfutter, auf das Publikum zuschreitend. In den ersten Sekunden seines Monologes mit den tausenden Zuhörern springt der riesengroße Funke über. Die Band stimmt ein erstes Lied nach der Ouvertüre an, der Star des Abends nimmt an seinem von ihm untrennbaren Konzertflügel Platz, er lässt den Zuhörern bekannte Töne erklingen und setzt seine Stimme zum ersten mal an diesem Abend ein. Männer und Frauen, Junge und Alte bedanken es ihm mit einem nicht enden wollenden Applaus, mit standing ovations. Diese Szenerie ist nicht einmal drei Wochen her. Und diese Erinnerung läuft wie ein Film gerade vor mir ab, nachdem ich erfahren habe, dass der zum österreichischen Kulturgut avancierte Sänger, Komponist und Pianist Udo Jürgens gestern vollkommen unerwartet im Schweizer Münsterlingen an Herzversagen verstorben ist. Ich hatte die besondere Gelegenheit, diesen großartigen Künstler, an seinem Lebensabend angekommen, erstmalig und leider auch letztmalig an einem der ersten Dezembertage des zu Ende gehenden Jahres in der Grazer Stadthalle zu sehen, zu hören und zu bestaunen.

Viele Nachrufe auf den 1934 in Klagenfurt geborenen Musiker, der als erster Österreicher 1966 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, werden sich seinen noch Generationen überlebenden Liedern widmen. VonMerci Chérie”, Mit 66 Jahrenbis zu Ich war noch niemals in New York. Ich kenne kein Fest, wo nicht quer durch alle Generationen und soziale Schichten spätestens mit dem Erklingen der ersten Takte vieler seiner Evergreens alle lautstark im Chor angestimmt haben – um diese Texte und Melodien, je nach Gemütszustand, entweder in voller Inbrunst mitzusingen oder mitzulallen. Ich möchte gar nicht wissen, wie oft ich persönlich Lieder wie Griechischer Wein oder Ein ehrenwertes Hausunüberhörbar irgendwo eingefordert habe. Fasziniert hat mich dieser Ausnahmekünstler schon immer, weil er es vielen seiner Musikerkollegen voraus verstanden hat, gesellschaftspolitische Brennpunkte in Liedgut umzuwandeln, um diese Themen so mit hunderttausenden Menschen zu besprechen.

Udo Jürgens wollte ich schon immer mal gesehen haben, weil ich für mich befunden hatte, dass das zur Allgemeinbildung im deutschen Sprachraum gehört. Ein Konzert vom sich im bürgerlicher Namen schreibenden Udo Jürgen Bockelmann war sozusagen Pflicht. Es mag jetzt zynisch klingen, aber ich habe den Komponisten von mehreren tausenden Liedern gerade noch beim Anstimmen seiner letzten Akkorde erlebt. Zuvor hatte ich nur einmal kurz die Gelegenheit ein paar Worte mit ihm zu wechseln, als er mich fragte, ob er meinen Sitzplatz im Wiener Café Prückel einnehmen darf, den ich gerade dabei gewesen bin zu verlassen. Zwei Bilder, zwei Geschichten aus seinem Konzert habe ich in den letzten Tagen und Wochen wiederholt erzählt. Ich besuche große Veranstaltungen dieser Art eher selten, nicht aus Desinteresse an der Kultur, aber weil ich meine wenige freie Zeit sorgsam einzuteilen versuche. Daher kann es sein, dass meine Wahrnehmung nicht vollständig ist. Aber, ich fragte mich nach und während des Konzerts, welcher Musiker leistet es sich in der heutigen Zeit noch, mit einer mehr als 20köpfigen Band durch die Gegend zu reisen und eine Tournee zu bestreiten. Mit Menschen aus verschiedensten Kulturkreisen, mit Solisten aus vielen Nationen. Und dann war da noch eine weitere Beobachtung, die ich nicht zum Alltäglichen zählen würde. Fast jeder seiner Musiker aus der Pepe Lienhard Big Band bekam im Laufe des Abends die Gelegenheit eines Solos. Begleitet von Worten der so großen Wertschätzung für all seine “Musiker-Mitarbeiter” durch den leider am 4. Adventsonntag verstorbenen Entertainer. Dieses Bild bleibt mir von Udo Jürgens. So viel an Sensibilität, Achtung, Respekt und Verneigung vor seinem Gegenüber in einer immer kälter werdenden Arbeitswelt vor den Augen tausender Menschen habe ich selten erlebt und sucht ihresgleichen. Ein Vorbild, das zum Maßstab für Würde und Menschlichkeit über die vielgepriesene „besinnlichste Zeit“ des Jahres hinaus gereichen sollte!