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Einsteins Geist

Kennen Sie jemanden, der Albert Einstein persönlich begegnet ist? Ich kannte Walter Thirring, den in dieser Woche verstorbenen österreichischen Physiker von Weltruf. 1953 hatte der mehrfach ausgezeichnete Wissenschafter seine erste Begegnung mit dem „Popstar“ unter allen Forschern in Princeton, dessen Bild mit der rausgestreckten Zunge zu den wohl bekanntesten Fotomotiven rund um den Globus gehört. Ich hatte Walter Thirring im Rahmen meines Buchprojektes Die Kraft des Scheiterns im Frühsommer 2008 kennen gelernt. Gemeinsam mit meiner Co-Autorin Christine Steindorfer besuchte ich den Träger des Paul-Watzlawick-Ehrenringes in seinem Sommerhaus am Fuße der Hohen Wand in Niederösterreich, um mit ihm über das Scheitern zu sprechen. Uns empfing ein kleiner, hagerer Mann, der die Konversation mit einer Beschreibung dessen eröffnete, was gerade rund um uns physikalisch passierte: „Millionen von Teilchen beschießen uns und prallen wieder vom Körper ab“, so der von ihm geschilderte und beängstigende Befund. Noch heute erinnere ich mich an das wirklich sehr eindrucksvolle Gespräch, wenngleich ich zugebe, einige seiner Ausführungen zu seinem Spezialgebiet der Quantenfeldtheorie nicht wirklich verstanden zu haben.

Der ehemalige Direktor der Abteilung für theoretische Physik am CERN wusste anekdotenreich aus dem Leben eines Menschen zu berichten, der seine gesamte Existenz der Forschung widmete und der diese Tätigkeit nur manchmal unterbrach, um sich beim Orgelspiel zu entspannen. Noch immer habe ich das eindrucksvolle Bild vor mir, das sich mir aufgetan hat, als der Wind den Vorhang zum Wohnzimmer in seinem 70er Jahre Bungalow zur Seite schob. Plötzlich war von der Terrasse aus der Blick frei ins Innere des schlichten Hauses, und ich erspähte eine imposante Kirchenorgel. Ein eher unübliches Instrument, das an sich nicht zur Standardeinrichtung eines Haushaltes gehört. Der belgische Physiker Léon van Hove hatte Einsteins Geigenspiel gelauscht und auch Thirrings musikalische Darbietungen gehört. Letzterem soll er attestiert haben: “Du bist der bessere Musiker”.

In einem Gespräch mit der Schweizer Weltwoche im Jahr 2007 erzählte Thirring als Verfasser vieler Bücher, der nie mehr als 2 bis 3 Stunden Schlaf brauchte, eine Geschichte aus dem Alltag des Entdeckers der Relativitätstheorie. “Einstein hat gesagt, dass er gerne nach der Arbeit durch die Altstadt (Bern) zum Bärengraben hinuntergegangen sei und bei der Fütterung zugeschaut habe. Und da habe er gesehen, dass die Bären meistens mit der Schnauze am Boden gehen und nur finden, was zufällig vor ihre Nase kommt. Aber hie und da gelinge es einem, sich auf die Hinterbeine zu stellen und das Ganze von einem höheren Niveau aus zu betrachten, und dann sehe er, wo die wirklich guten Sachen liegen. Das habe ihn an die Physiker erinnert, die immer nur über dem Rechenzettel sitzen und nicht weiter als bis zur nächsten Formel schauen. Die wirklichen Entdeckungen würden aber nur von höherer Warte aus gemacht, wenn man die größeren Zusammenhänge überblicke.” Um dieses Bild weiter zu zeichnen, stellt sich die Frage, wann und wo wir uns eigentlich noch auf die Hinterbeine stellen, um neue Perspektiven zu erkennen, um ausgetrampelte Pfade zu verlassen oder um neue Wege einzuschlagen? Der Blick auf das Weltgeschehen lässt da wenig Hoffung aufkommen! Schon zu seiner Zeit wusste der 1955 verstorbene Nobelpreisträger Einstein: “Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.” Eine Erkenntnis von noch immer trauriger und „relativer“ Aktualität!