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Die Sprache braucht nicht immer Worte

Britische Wissenschaftler haben eine mathematische Formel zur Berechnung der perfekten Stimme entwickelt. Um sie zu erlangen, so der Linguistik-Professor Andrew Linn von der Universität Sheffield, müssen ein paar Regeln eingehalten werden. Dabei spielen Satzmelodie, Sprechtechnik und Sprechtempo eine Rolle, wie aus der im Mai 2008 veröffentlichten Studie im Auftrag der britischen Post hervorgeht. Perfekt artikulieren kann sich demnach, wer die Formel ([164,2wpm x 0,48pbs]) Fi = PVQ befolgt. Dies bedeutet, für die ideale Stimme (PVQ) sollten weniger als 164 Wörter pro Minute (wpm) gesprochen werden. Darüber hinaus gilt es, nach jedem Satz eine Pause (pbs) von 0,48 Sekunden einzulegen. Und am Ende des Satzes sollte die Satzmelodie abfallen (Fi). * Alles eh ganz logisch, oder?

Als ich noch in die Volksschule ging, wurde ich eines Tages in Begleitung meiner Mutter in die Sprechstunde vorgeladen. Mein groß gewachsener Klassenlehrer, ich glaube er hat Trummer geheißen, wollte mit meiner Mutter darüber reden, dass es um meine Aussprache schlecht bestellt ist. Um das zu demonstrieren, gingen wir vom Lehrerzimmer auf den Flur des Schulgebäudes in der Köflacher Grazerstraße, da es dort einen großen Spiegel gab. Vor diesem angelangt, musste ich Wörter aussprechen, während mein Deutschlehrer erklärte, was mir alles an sprachlicher Begabung fehlt. Andere Menschen gingen im Hintergrund an uns vorbei, das muss Mitte der 70iger Jahre gewesen sein, als ich in etwa 8 oder 9 Jahre alt war. Ein irgendwie erniedrigendes Ereignis! Jahrelang hatte ich Scham davor, mit Menschen in einem mir nicht vertrauten Umfeld zu sprechen. Wo kein Schaden, da kein Nutzen, könnte man ich nachhinein sagen. Ich habe mich sehr bemüht, ordentlich zu sprechen. Den Nutzen, den ich daraus gezogen habe war, dass ich sehr früh meinen weststeirischen Dialekt ablegen und eine bessere Aussprache entwickeln konnte, wie ich damals meinte.

Der Erfolg meines Buches “Die Kraft des Scheiterns” brachte es mit sich, dass ich plötzlich einigermaßen oft zu Vorträgen eingeladen wurde, während ich in früheren Zeiten vielleicht drei Auftritte pro Jahr hatte, stand ich alleine im letzten Jahr über zwei Dutzend mal auf irgendwelchen Bühnen. Dass ich heute je nach Anforderung zwischen 45 und 90 Minuten irgendwo frei sprechen kann, habe ich mühevoll erlernen müssen. Die damals in Vorarlberg und heute in Wien lebende Selbstbewusstseins-Trainerin Hilde Fehr* hat mich mit ihrer “vollen Strenge” im Kopf so weit gebracht, dass ich mich irgendwann frei sprechend vor dem Publikum Geschichten zu erzählen traute. Ich hatte sie damals “gehasst”, sie machte mich fertig, heute sind wir freundschaftlich verbunden und ich kann sie wirklich sehr empfehlen. Hilde war sozusagen mein Mentalcoach, für meine Aussprache engagierte ich die Sprachtrainerin Brigitta Prochazka*. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Vorsprechen gekommen bin. Irgendwo in einem Nebengebäude des Schlosses Schönbrunn erteilte sie mir meine erste Lektion. Ich musste einen Text vorlesen, den sie aufnahm und mir dann vorspielte. Das Ergebnis war furchtbar. Sie sagte zu mir “Wenn Sie sich entscheiden wieder zu kommen, dann spiele ich Ihnen nach Ende der Übungseinheiten diese Aufnahme wieder vor, Sie werden Ihre Aussprache nicht wieder erkennen.” Sie sollte Recht behalten, auch meine Referenz ist ihr sicher. Eine meiner Lieblingsübungen war das Vorlesen eines Textes, dem sämtliche Satzzeichen fehlten, eine Übung, die auch heute noch sehr gerne wiederhole. Es ist unglaublich, wie vielfältig man Texte interpretieren kann, wenn man sich nicht an Punkten und Beistrichen orientiert, sondern an den Worten, an den Gefühlen, an den Wahrnehmungen in der Umgebung.

Gestern Abend war ich bei einer Lesung von Ben Becker im Grazer Kammermusiksaal. Es ist unglaublich, wie dieser Künstler mit Sprache umgehen kann. Schon als ich ihn 2008 in Frankfurt erstmalig hörte, war ich noch Tage danach fasziniert. Er rezitierte die Klassiker der Weltliteratur, von Fontane über Goethe bis Schiller, auf eine Art und Weise, dass mir der Mund offen blieb. In einer kurzen Pause, zwischen “Der Handschuh” und “Der Zauberlehrling” erzählt er eine Geschichte, die sehr viel mit Sprache zu tun hat. Er war damals gerade in Schillers Heimat Weimar engagiert, als er einmal beim Geburtshaus des wohl bedeutendsten deutschsprachigen Dramatikers vorbeiging. Eine Gruppe von Mädchen stand  davor, gelangweilt, mehrheitlich die Stöpsel des iPods im Ohr, während sich die Lehrerin bemühte, den großen Dichter und Philosophen zu erklären. Die jungen Damen erkannten ihn, sofort war Schiller zweite Wahl und Ben Becker der Mittelpunkt des Interesses. Er fragte sie, warum sie das alles offensichtlich so langweile, die nahezu einstimmige Antwort lautete, das sei alles von gestern, alles langweilig und überhaupt. Becker stellte sich vor die Mädchen und interpretierte die “Bürgschaft” auf die ihm eigene und unverwechselbare Art. Die Schulklasse war begeistert, es gab großen Applaus. Ein Mädchen sagte, wenn ihre Frau Oberlehrerin Kletschma dieses Gedicht vorlesen würde, dann wäre das immer so leblos und würde sie nicht berühren. “Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken”, dieses Zitat wird dem englischen Gelehrten Samuel Johnson (1709–1784) zugeschrieben – und das hat Ben Becker bei seiner Vorstellung gestern Abend meisterhaft unter Beweis gestellt.

* www.20min.ch * www.hildefehr.at * www.anklang.at