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Von den Klammeraffen

Normalerweise beschäftige ich mich in meinen Vorträgen mit dem Thema Scheitern. In etwas mehr als einer Woche werde ich in Bozen auf Einladung der dortigen Handelskammer bei einem Kongress zum Thema Unternehmensnachfolge über das Thema “Loslassen” sprechen. Dementsprechend aufmerksam suche ich derzeit nach Informationsquellen, die mir als Impulsgeber dienen. Es ist immer wieder interessant, wie ein Thema plötzlich an Präsenz gewinnt, nur weil es momentan im Fokus steht. Wenn ich Zeitungen oder Magazine lese, oder durch irgendwelche TV-Programme zappe, die Frage des “Loslassens” scheint das bestimmende Thema zu sein. Ähnlich erging es mir letzten Mittwoch in meiner bevorzugten Buchhandlung in der Wiener Innenstand, ich wandle durch die weitläufigen Räume und plötzliche stehe ich vor einem Regal, wie von unsichtbarer Hand geführt, und vor mir liegt ein Büchlein, einem Schulheft ähnlich, ein Übungsheft zum Ereignis des “Loslassens”.

Die beiden Schweizer Autorinnen Rosette Poletti und Barbara Dobbs haben in dem im deutschen Trinity-Verlag verlegten Buch einiges an interessanten und nützlichen Übungsbeispielen und Thesen formuliert bzw. zusammengetragen. Beispielsweise kann man lernen, wie man in Indonesien Affen fängt. “Man steckt eine Orange in einen großen Kürbis. Der Affe steckt seine Hand hinein und umfasst die Frucht, kann die Hand dann aber nicht wieder herausziehen. Weil er die Orange nicht wieder loslassen will, hängt er fest und bleibt an Ort und Stelle – gefangen.” An diese kurze Geschichte ist die Frage angeschlossen, was die persönliche Orange ist, von der er oder sie nicht loslassen kann. Ist es Verbitterung durch eine Enttäuschung, ist es eine große Sorge, ist es eine Kränkung oder beispielsweise ein Schuldgefühl? Es ist eigentlich ganz einfach, sagte eine guter Freund zu mir, der mich am letzten Wochenende in Wien besucht hat. “Wenn du loslässt, dann hast du zwei Hände frei”. Ich stelle mir gerade die praktische Anwendung dieser Formel in einer Kletterwand hängend vor, aber das ist eine andere Geschichte. Der Ratschlag ist im täglichen Leben so zu verstehen, dass man mit freien und offenen Händen Neues annehmen kann. Mann müsste sich aus dem persönlichen Gefängnis befreien, das einen umgibt, schlussfolgern die beiden Autorinnen in ihrem lesenswerten Buch.

„Anklammern ist unsere Natur“, sagt die Psychoanalytikerin Katharina Ley, „Loslassen müssen wir dagegen erst lernen.“ Denn am Beginn unseres Lebens ist Bindung unverzichtbar. „Ein Baby greift nach unserem Finger, nach unserem Gesicht, schmiegt sich an.“ Losgelöst würde es in den sicheren Tod treiben, fasst die Soziologin aus Bern ihre Sichtweise der Dinge in einer im deutschen *Stern 2011 erschienenen Geschichte zusammen. „Wann immer im Leben Angst auftaucht, aktiviert das unser Bindungssystem“, sagt der Münchner Psychiater und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch in der selben Story. Das heißt, wenn wir auf dem Sprung zu etwas Neuem sind, brauchen wir erst recht das Gefühl, gebunden zu sein. Beispielsweise finden Abschiedsfeste oder der Polterabend vor einer Hochzeit darin ihre Begründung. Freunde und Bekannte begleiten uns auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt, das gibt uns Sicherheit. Eine Besonderheit unseres Gehirns verstärkt unsere Neigung, in gewohnter Gesellschaft zu bleiben, Neues zu verarbeiten verschlingt im Hirn große Mengen an Zucker und Sauerstoff. Wann immer dieses mit solchen komplexen Aufgaben konfrontiert ist, versucht es, Energie zu sparen – das stellten Neurobiologen übereinstimmend fest.

Die Lebenserfahrung zeigt aus meiner Sicht oft rückblickend, dass die Angst vor Veränderung vielfach unangebracht gewesen ist. Wer von uns kennt das nicht, in zwischenmenschliche oder berufliche Projekte zu investieren, die keinen Sinn mehr ergeben. Aber die Furcht, sich ein persönliches Scheitern eingestehen zu müssen, hält uns oft von Konsequenzen ab und verleitet uns dazu, den längst eingetretenen Tod eines Vorhabens mit lebenserhaltenden Maßnahmen zu bekämpfen. Die Realität und die Lebensbiografien vieler Menschen überhäufen uns mit unzähligen Beispielen, die uns lehren, dass das reine Energieverschwendung ist. Zufall oder nicht, ich sitze gerade an meinem Schreibtisch, und während ich nachdenke, was ich noch schreiben könnte, entdecke ich neben einem Bücherstapel eine kleine Karte, die mir der deutsche Managementtrainer und Kampfsportler Alfred Gehelen bei einer gemeinsamen Veranstaltung vor einigen Jahren gegeben hat. Darauf ist sein Siegerprinzip in knappen Worten festgehalten: 1. Analyse, 2. In Lösungen denken, 3. Konsequentes Handeln, 4. Schwachpunkte suchen, 5. Ablenken, 6. Sich selbst bewegen, 7. Zu Ende bringen; Das ist doch eine ganz klare Handlungsanleitung, oder? Viel Spaß beim Loslassen!

* http://www.stern.de/gesundheit/