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Vom Ende der Freiheit!

Am 1. Mai 1989 wurde ich 23 Jahre alt. Historisch gesehen war dies eher ein bedeutungsloser Tag, wenn man davon absieht, dass an meinem Geburtstag das für Paraden aller Art geeignete „1. Mai-Stadion“, auch “Rungrado May Day Stadium“ genannt, in Nordkorea seiner Bestimmung übergeben wurde. Das hätte wiederum geschichtlich keine wirkliche Bedeutung, außer einer geografischen vielleicht, da im “gefestigten Einparteiensystem” Diktator Kim Jong-un gegen Ende des letzten Jahres ein Sexismus-Opfer der übelsten Art wurde. Was haben wir uns alle schenkelklopfend darüber lustig gemacht, als diese “Volllusche” dem US-Satire-Website “The Onion” auf dem Leim gegangen war, das den jungen Machthaber wie folgt charakterisierte: „Mit seinem umwerfend hübschen, runden Gesicht, seinem jungenhaften Charme und seiner starken, stämmigen Figur ist dieser Herzensbrecher aus Pjöngjang der wahrgewordene Traum aller Frauen“. Ich versuche mir gerade auszudenken, was dem liberalen Hoffnungsträger der deutschen Politik, dem 67jährigen Rainer Brüderle, widerfahren wäre, wenn er der unter Zeitverzögerung leidenden „Stern“-Redakteurin Laura Himmelreich nicht nur eine “Dirndlfestigkeit”, sondern eine Charakterisierung – selbstverständlich gegendert – attestiert hätte, wie die in englischer Sprache erscheinende Satirezeitschrift gegenüber dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungskomitees von Chosŏn Minjujuŭi Inmin Konghwaguk (kurz Nordkorea). Mich verwundert noch immer, was der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag da zu mitternächtlicher Stunde an der Bar eines Hotels gesehen hat, war es eine Fata Morgana? Die menschliche Realität seines Gegenübers kann es nicht gewesen sein, würde ich meinen.

Auf den ersten Tag im Mai Ende der 90iger Jahre bin ich aus einem anderen Grund gekommen. 24 Stunden nach meinem 23. Geburtstag wurden die Grenzanlagen entlang des Eisernen Vorhangs zuerst von Ungarn ab dem 2. Mai 1989 abgebaut. Als Symbol für das Ende des Kalten Krieges sollte im selben Jahr die Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989 erfolgen. Als die von einem Unrechtssystem gepeinigten Menschen erstmals die Luft der Freiheit atmen konnten, sprachen wir im Westen vom Ende der persönlichen Einengung, vom Ende des Überwachungsstaates, vom Ende der Unterdrückung schlechthin. Wenn ich mir den Verlauf der Jahre seit dieser historischen Zäsur ansehe, die hunderttausenden Menschen erstmalig verbriefte Selbstbestimmung brachte, bin ich mir nicht sicher, ob wir uns als Gesellschaft wirklich weiterentwickelt haben. Was ist aus unserer Freiheit geworden? Vor noch nicht all zu langer Zeit haben wir mit dem Finger auf alle diese staatlichen Regime gezeigt und auch bei jeder Gelegenheit auf jene verwiesen, die die Freiheit des Einzelnen in jeder Form beschneiden. Und wenn ich mir jetzt unsere Freiheit ansehe? Es gibt kaum mehr Plätze und Orte, die nicht überwacht werden. Es gibt kaum mehr Handlungen, die irgendwer anonymisiert begehen kann. Jedes Handy kann lokalisiert werden, jedes Telefonat nachvollzogen, jedes E-Mail bei Bedarf von Außenstehenden gelesen werden. Ist das von uns offensichtlich gewollte Überwachungssystem nicht noch engmaschiger geworden, als in jenen Staaten, die wir viele Jahre zu Recht dafür kritisiert haben? Und neben all der vom Staat legitimierten Observierung der Bürger gesellt sich der private Voyeurismus dazu, der durch die Medien genährt wird und der die Schamgrenze sprichwörtlich immer weiter nach unten gleiten lässt. Menschen zu entwürdigen, Leute bloßstellen, Männer und Frauen bei irgend etwas Verbotenem zu ertappen, das scheint irgendwie ein neuer Volkssport geworden zu sein.

Und gibt es überhaupt noch Dinge, die man ungestraft und unbeobachtet als Bürger tun darf, außer auf die Toilette zu gehen? Wir definieren uns als Gesellschaft, so mein Eindruck, nur mehr über Verbote. Die Mehrheit aller Debatten begründet sich über Untersagungen. Wo und wann wird eigentlich noch über die Vernunft und Eigenverantwortung der Menschen gesprochen? Was sind die nächsten Steigerungsformen der schrittweisen Entmündigung hin zu noch mehr Reglementierung, Kontrolle und Überwachung? Mich wundert, dass noch niemand im Sog der Sexismus-Debatte auf die Idee gekommen ist, eine Sittenpolizei nach Vorbild der Islamischen Religionspolizei zu etablieren. Eine der Hauptaufgaben der Wüsten-Scheriffs ist es ja, im Auftrag des Staates die Scharia-Vorschriften zu überprüfen. So ist sie dazu befugt, Männer, die sich mit Frauen unterhalten, mit denen sie nicht verheiratet oder verwandt sind, zu verhaften. All die Brüderles dieser Welt würden sich folglich sehr genau überlegen, ob sie einer Frau nochmals einen Handkuss antragen oder ihr gar die Befähigung zusprechen, für manche Kleidungsstücke besonders geeignet zu sein. Wenn man sich die Muster der Sexismus-Debatte ansieht, dann stellt sich schon die Frage, wie fehlgeleitet viele im System der Politik und Medien sind, wenn eine bedeutungslose Geschichte, für die es offensichtlich nicht mal einen Beleg gibt, ob sie tatsächlich so stattgefunden hat dazu ausreicht, um tagelang den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. Und diese Diskussion findet dann noch auf einem Niveau statt, dass sich jeder vielleicht sogar interessierte und selber denkende Mensch nur mehr mit Schrecken abwendet. Wo bleibt die notwendige, breit angelegte Debatte über die zu große Nähe von Politikern und Journalisten, wo die notwendige Einmahnung einer professionellen Distanz in diesem Zusammenhang? Es fehlt, und ich wiederhole mich mal wieder, ein engagierter Gedankenaustausch über Rechte und Pflichten des Einzelnen. Verbote, Reglementierungen und Überwachung werden den Blick des Menschen für seine gesellschaftliche Verantwortung, für sein zum Wohlergehen ausgerichtetes Handeln und die Bedachtnahme bei der Wahl seiner Taten und Worte nicht fördern, sondern noch weiter nach unten nivellieren. Schon einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, Benjamin Franklin (1706 –1790), wusste “Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.” Wir sind am besten Weg dazu, finde ich.