Nabelschau
Es ist Dienstag nach dem Wahldebakel bei unseren Lieblingsnachbarn. Und das große Wunden lecken geht weiter. Aus den Lagern der Verlierer hört man wehleidige Suaden, die über den „Fukushima-Effekt“ lamentieren, von dem die Grünen profitiert hätten. Und die Altparteien, die haben es plötzlich immer schon gewusst, dass das mit dem Atomstrom keine Zukunft hat. Sie wollten halt einfach abwarten. Brückentechnologie und so – sie verstehen? Aber jetzt, jetzt wo sie gesehen haben, wie gefährlich das Zeug ist, jetzt verordnen sie sich eine Nachdenkpause. Denn jetzt, da etwas passiert ist, nehmen sie unsere Bedenken ernst. Sorry Leute, aber Eure weichliche Nabelschau kommt reichlich spät. Nein, es geht nicht nur um Fukushima. Es geht darum, dass sich die Leute nicht mehr für dumm verkaufen lassen. Es geht darum, dass die Leute heute im Vergleich zu Tschernobyl-Zeiten viel besser in der Lage sind, Informationen einzuholen, zu vergleichen und zu bewerten. Wenn Ihr Euch in Wahlkampfzeiten für die Laufzeitenverlängerung einsetzt und jetzt Kommando retour ruft, nimmt Euch das keiner mehr ab.
Es geht doch nicht mehr um ideologische Dogmen, sondern um reale Bedürfnisse von Menschen, die ein ernsthaftes Interesse haben, an der Willensbildung teilzunehmen. Vielleicht hat der vergangene Wahlsonntag das definitive Ende der Kluft zwischen den „bürgerlichen“ Parteien und dem Rest des politischen Spektrums eingeläutet? Vielleicht gibt es das Märchen von der bürgerlichen Mitte heute genauso wenig wie das der anti-bürgerlichen Chaoten- und Steinewerfer-Partei? Vielleicht sind Parteienideologin einfach eine aussterbende Gattung und als solche nicht mehr glaubwürdig? Bei den Wählern ebenso wenig wie bei den Volksvertretern. Der Journalist Yascha Mounk (the European) formulierte es heute äußerst trefflich: Alle Zeitungen berichten davon, wie gutbürgerlich Winfried Kretschmann sei. Stimmt vielleicht. Aber mindestens genauso erstaunlich ist es doch, wie schlechtbürgerlich das Spitzenpersonal von Schwarz-Gelb ist. Die CDU-Vorsitzende ist erstens Frau und zweitens kinderlos. Der FDP-Vorsitzende ist schwul. Und der CSU-Vorsitzende ist stolzer Vater einer nichtehelichen Tochter.* So what?
Die Entscheidung für oder gegen die Kernkraft ist erfrischend klassenlos – die Grenze verläuft nicht entlang der üblichen Gräben – und sie macht Lust auf mehr Demokratie. Ich finde die Mobilität der Wähler begrüßenswert. Sie zeigt, dass die Menschen sehr wohl Interesse an der Gesellschaft haben und Lügen in der Politik im 21. Jahrhundert offensichtlich schneller kurze Beine bekommen als davor. Und diese Entwicklung halte ich für positiv, weil sie den Wettbewerb der Parteien verstärkt, genauer, ehrlicher und näher am Menschen zu arbeiten. Das gibt Hoffnung!
* Der Tod des Bürgertums, www.theeuropean.de