Gibt es einen Weihnachtsmann?
Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann? Die 8jährige Virginia hatte erhebliche Zweifel an der Existenz der Symbolfigur des weihnachtlichen Schenkens und stellte auf Anraten ihres Vaters diese Frage 1897 der Zeitung „New York Sun“. Sie war verunsichert, da einige ihrer Freunde das Gegenteil behaupteten. Die zu jener Zeit bedeutende New Yorker Zeitung würde die Antwort kennen, beruhigte der Vater seine kleine Tochter, das Blatt würde gewiss die Wahrheit sagen. Francis P. Church, der Redakteur der Zeitung, nahm sich der Fragestellung an und schrieb dazu einen Leitartikel, der in der Ausgabe vom 21. September 1897 erschien. Mehr als ein Jahrhundert später ist sein Kommentar aus dem 19. Jahrhundert der noch immer am meisten nachgedruckte Leitartikel überhaupt in englischsprachigen Zeitungen.
Er schrieb in einfühlsamen Worten: „Virginia, deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unseren großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz, die zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen fähig ist.“ Es sind wunderschöne, philosophisch anmutende Gedankengänge, die der ehemalige Kriegskorrespondent formulierte. „Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. O weh! Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können.“
Was saß da in der Redaktionsstube für ein Seismograph der kindlichen Gefühlswelt? Ein Mann, der davor vom amerikanischen Bürgerkrieg berichtet hatte, der die Kälte der Welt sehen und über sie schreiben musste und der sich trotzdem ein so großes Maß an Herzenswärme erhalten hatte, um strahlende Kinderaugen nicht mit unbedachten Worten zu erlöschen: „Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen.“ Ist es nicht einfach schön, an dieser Geschichte, die ich auszugsweise wiedergegeben habe, nachlesen zu können, wie hoffnungsvoll, wie berührend und nicht auf die letzte Antwort lechzend, Träume erhalten werden können?
Ich versuche mir gerade vorzustellen, was in unserer Zeit einem Kind, beispielsweise meiner 10jährigen Tochter Valentina widerfahren würde, wenn sie an eine Zeitung schriebe. Wie würde wohl da eine Antwort ausfallen, wenn sie überhaupt eine bekommen sollte. Vielleicht würde jemand aus der schreibenden Zunft schon alleine bei der Fragestellung „Ob es einen Weihnachtsmann gibt?“ in leichte Unruhe verfallen. Im „Glücksfall“ könnte die Antwort eine kleine Belehrung beinhalten, dass es eben keinen richtigen Weihnachtsmann gibt und selbiger ohnedies maßgeblich den Köpfen der Kreativabteilung der Coca-Cola Company entsprungen ist, die seit 1931 alljährlich zur Weihnachtszeit den Mann mit dem langen weißen Rauschebart für die eigenen Werbekampagnen benutzt. Je nach inhaltlicher Ausrichtung des Mediums könnte damit noch eine kleine Kapitalismuskritik einhergehen, die dem globalen Kaufrausch zur angeblich stillsten Zeit im Jahr eine Absage erteilt und das Fest der Liebe einfordert, selbstverständlich WEB 2.0 optimiert und den neuen Gegebenheiten angepasst, in der alle Menschen irgendwie vernetzt, aber dennoch alleine sind.
Das wäre vielleicht der noch etwas positivere Zugang in die Köpfe und Herzen der Menschen. Der Brief mit inkludierter Fragestellung könnte ebenso bei RedakteurInnen landen, die, der oder das sich in der journalistischen Arbeit dem Thema Gleichstellung verschrieben hat. Selbiges Mensch könnte die Frage erörtern, ob der Weihnachtsmann noch zeitgemäß ist, ob es nicht ein Signal an all jene Menschen braucht, die sich irgendwie ob der geschlechtlichen Dominanz des Kuttenträgers minder fühlen. Wie geht es all den Leuten beim Anblick der roten und mit weißem Pelz besetzten Robe? Drücken nicht die schwarzen Stiefel eine zusätzliche machoide Dimension aus, die in der heutigen Zeit ein verkehrtes Signal darstellt? Müsste nicht der Weihnachtsmann in der Verbildlichung den Migrationsströmen und der realen Bevölkerungssituation Rechnung tragen? Müsste der Weihnachtsmann folglich dessen nicht zum Weihnachtsmenschen mutieren? Und wenn ja, wären die Gesichtszüge dann eher weiblich oder männlich? Wäre die Hautfarbe hell oder dunkel? Trüge er einen Schleier, wäre er von stämmiger Figur oder würde er den veganen Lebensstil symbolisieren? Möglicherweise wäre der einstmalige Weihnachtsmann am Ende der Umwandlung zum Weihnachtsmenschen ein saudichinesischer Unisexueller, der sich zum Islam bekennt, den nahen Osten verlassen und seine neue Heimat in Papua-Neuguinea gefunden hat.
Diese auf den ersten Blick diffuse Argumentationskette würde alle Merkmale und Lebensweisen der Genderforschung zumindest in einer ersten Momentaufnahme berücksichtigen, sei vollständigkeitshalber erwähnt. Sie wäre somit eine ideale Projektionsfläche für eine der Bedeutung des Themas angemessene weiterführende Diskussion in Arbeitsgruppen, Foren und Feedbackrunden, in denen an einer weiteren „Verflachung“ des Themas im Sinne von Gleichförmigkeit gearbeitet, gefeilscht und sich am Ende die Hände glücklich reichend, gestritten werden kann. Getreu dem Motto „Eine Haltung ist dann eine, wenn alle keine erkennbare mehr haben.“
Egal wie diese Debatte auch immer ausgeht. Der Brief könnte genau so bei einem Redakteur landen, der zwar vom Schreiben lebt, aber tief in seinem Herzen ein verhinderter Umweltaktivist ist. Davon soll es ja einige geben. Was würde diese Menschin dem Mädchen wohl antworten? Könnte alleine die Fragestellung, ob es den Weihnachtsmann gibt, einen Hintergrund vermuten lassen, der auf die umweltbedrohlichen Konsequenzen des Handelns dieses zukünftigen Weihnachtsmenschen schließen lässt? Was würde ein umweltkritisch sozialisiertes Kind denn sonst für ein Lebensumfeld haben, wenn sich keine Kompetenzvermutung in Sachen ökologisch verträglicher und CO2 tauglicher Verhaltensweise ableiten ließe. Hat sich schon irgendjemand mal dem Themenfeld Verkehrswege des auf einer Kutsche dahinfliegenden Weihnachtsmanns zugewandt? Ist das wirklich allen egal, dass der Geschenkebringer bei der Arbeit ohne entsprechende, nirgendwo auffindbare Verordnungen, Gesetze, Erlässe und Regelementierungen seinen Job ausübt? Hat sich bitte schon jemand mal mit der verursachten CO2 Belastung auseinandergesetzt? Wie ist der Weihnachtskutschenflug geregelt, wieso gibt es hier eine offensichtliche Ausnahme vom Nachtflugverbot? Wieso benötigen alle andere technischen Geräte eine Zertifizierung vom TÜV? Wer hat hier interveniert? Wie sieht es mit den für den Asphalt besonders schädlichen Kufen nach der Landung aus? Braucht nicht gerade ein Business, welches von Milliarden von Menschen verfolgt wird, eine besondere Vorbildfunktion? Neben der ökologischen Dimension gilt es auch gewerberechtliche Fragen ausreichend zu besprechen. Wieso darf hier jemand ein Gewerbe ausüben, bloß weil er es mit Leidenschaft und Hingabe macht, aber bei allen anderen Unternehmern ist zuerst mal der überbordende Bürokratismus die Messlatte?
Lassen wir mal all die kleinen Nebensächlichkeiten wie die „Genderei“, die Kompatibilität mit der Umwelt und ein paar gewerberechtliche Aspekte weg. Der Brief hätte genau so gut in der Wirtschaftsredaktion landen können. Konzentrieren wir uns sozusagen auf das Kerngeschäft des Weihnachtsmenschen, die An- und Auslieferung von Geschenken. Auch da wäre mal eine kritische Hinterfragung angebracht. Wie ist die Logistik organisiert. Wird auch hier wie bei Zalando oder Amazon akzeptiert, dass Menschen irgendwo in Hallen stehend, Millionen von Geschenken einpacken, sortieren und am Ende des Tages zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben haben? Wie ist die Kühlkette organisiert, wenn Lebensmittel ausgeliefert werden, wer kontrolliert wann und wo und in welcher Häufigkeit? Wie sieht es mit den Ruhepausen für die Rentiere aus, woher wird das Futter für die Lasttiere bezogen? Und unter welchen Bedingungen wurde die Tiernahrung angebaut und verarbeitet. Wie steht es um die Wachstumspotenziale, wie geht das Geschäft auf den neuen Märkten? Wie steht es um die Verlagerung des Geschäftes ins Netz? Wäre eine virtuelle Weihnachtsmenschin nicht die Lösung, weil dies die Umwelt am stärksten entlastet und vor allem die Rentabilität des Business noch mehr steigert? Ist es nicht längst ohnedies so, dass der persönliche Kontakt, die Anwesenheit eines richtigen Menschen, eines Wesen aus Fleisch und Blut, uns immer mehr überfordert – uns in einen unangenehmen Zustand versetzt, weil wir uns plötzlich nicht in der Welt der Bits and Bytes hinter Bildschirmen verstecken können, sondern uns zeigen müssen, mit all unseren Gefühlen, mit unseren Stärken und ebensolchen Schwächen?
Ist die Zeit des Weihnachtsmannes nicht ohnedies schon abgelaufen, könnten Mitarbeiter des Ressorts Leben einer Zeitung anmerken, die ebenso den Brief erhalten könnten. Das zentrale Thema in der Aufarbeitung der Frage, ob es einen Weihnachtsmann gibt, könnte sein, welches Bild dieser dicke alte Mann mit seinem ungepflegten Bart in den Köpfen der Kinder wohl auslöst. Eine Gestalt, die keinen geraden Satz außer dieses „HO HO“ über die Lippen bringt. Ein Mensch, der überhaupt nicht den vermeintlichen Schönheitsidealen unserer Zeit entspricht? Nicht zu vernachlässigen sind selbstredend auch pädagogische Aspekte. Ist der konzeptionelle Ansatz des Belohnens durch Beschenken noch richtig?
Ich finde, dass all die von mir beschriebenen Herangehensweisen in der Beantwortung einer für Kinder existenziellen Frage keinerlei Überzeichnung der Realität sind. Daher ist es gut und richtig, insbesondere in der „Stillen Zeit“ ein paar laute Fragen zu stellen. Wäre es manchmal nicht gut, die Welt mit Kinderaugen zu sehen, sich einen Rest von Träumen zu belassen? Ein paar Unschärfen in der Beschreibung der Wirklichkeit zu erdulden, weil wir alle auch Hoffnung, Begehren, Verlangen und Bedürfnisse nach ein wenig mehr an Glück und Zuversicht haben.
Francis P. Church, der Autor der von mir eingangs erzählten Geschichte, hat in der Beantwortung der Frage, ob es einen Weihnachtsmann gibt, so viel an wohltuender Wärme verbreitet und damit gleichsam das große Gefühl vermittelt, uns allen nicht den Schleier vor den Augen wegziehen zu wollen, damit uns die Härte und Kälte des Alltags, die wir alle zu spüren bekommen, noch stärker trifft. Er hat, um es in seinen Worten zu sagen, eine oft für uns unsichtbare Welt der Hoffnung „mit einem Schleier bedeckt gelassen“. Einen Vorhang, „den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben.“ In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein frohes und wahrlich gesegnetes Weihnachtsfest!
Diesen Text habe ich für die „Adventlesung“ der Edition Keiper verfasst.