Einmischen necessary
Morgen eröffne ich an der Universität Augsburg den 12. Internationalen Kongress erleben & lernen | 2018. Die Veranstalter haben mich eingeladen, die Frage zu beantworten, warum die Gesellschaft Freigeister braucht? Der Appell meines aktuellen Buchs „Tu es! Die Welt braucht dich.“, versteht sich als Aufforderung an uns alle, nicht mit Scheuklappen durch die Welt zu wandeln, sondern die eigene Komfortzone zu verlassen und über den Tellerrand hinauszublicken. Gesellschaftlich gesehen gibt es einiges zu tun, wie ich meine. Aber wo werden Menschen ermutigt sich einzubringen? Im Zeitalter von Facebook, Twitter und Co. habe ich den Eindruck, dass Millionen von Menschen jeden Tag nur darauf warten, bis sie wieder „eine Sau durchs Dorf treiben“ können. Bis sie jemanden im World Wide Web gefunden haben, der mit einem Shitstorm so lange zugepostet wird, bis er den virtuellen Tod stirbt. Social Media braucht keine Gerichte, die virtuelle Lynchjustiz kennt keine Gegenargumente, kennt meist nur eine Meinung und urteilt im Sekundentakt. Fehlverhalten wird nicht toleriert, zumindest dann nicht, wenn es sich gegen den Mainstream richtet. Als Richter treten dann vorwiegend jene auf, die irgendwo anonym in der Masse mitschwimmen, die ihr Lebenskonzept der Angepasstheit untergeordnet haben und alles tun, um ja nicht aufzufallen. Und ich kritisiere all diese Männer und Frauen, diese Jungen und Alten eigentlich gar nicht! Sie haben sich dem Staat vollkommen unterworfen, sie haben irgendwann die uns im Gleichklang von Politik und Medien erzählten Geschichten von all den Bedrohungen geglaubt und waren froh, dass sie der Staat unter dem Deckmantel der Sicherheit in ein immer engeres Korsett gezwängt hat. Auf dieser Basis wird nicht jener Humus gesät, der Freigeister wachsen lässt!
Die gesamte Menschheitsgeschichte lehrt uns aber, um mit Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) zu sprechen, dass ohne das „geistige Nomadentum“ der Freigeister wahrscheinlich wenig Neues in die Welt gekommen wäre. „Es gab immer Menschen, die eingefahrenen Bahnen und verordneten Wahrheiten misstrauten. Die Autoritäten angriffen, sich über sie lustig machten, originelle und zuweilen spektakuläre Ideen in die Welt warfen. Dabei gingen sie oft das Risiko ein, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben zu verlieren – beschimpft als Ketzer, Verräter oder Dissidenten. Doch wie ist es heute?“ Martin Großkopf, der stellvertretender Vorsitzende der nordrhein-westfälischen Landesgruppe des „Deutschen Freidenker Verbandes“ definiert den Freigeist so: „Ein Freidenker ist jemand, der selber denkt.“ So banal diese Formel klingt, so sehr stellt sich die Frage, wo sie zur Anwendung gebracht und wo „Selberdenkertum“ gefördert wird? Vielmehr noch: wo wird Freigeistiges zugelassen, wo sind die Ergebnisse freier Gedankengänge tatsächlich willkommen, wenn sie außerhalb der eigenen vier Wände artikuliert werden?
Der Theologe Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) beschrieb schon zu seiner Zeit die Problemlage trefflich: „Kann es sein, dass die Chancen der kollektiven Torheit in unserer angeblich aufgeklärten Zeit noch größer sind als jemals zuvor?“ Schon damals warnte er vor den fatalen Folgen der Verkürzung vieler gesellschaftlicher Debatten. Sie führt dazu, dass nicht wenige Menschen schlicht und einfach den Durchblick und Überblick verlieren und sich deshalb den einfachen Erklärungsmustern zuwenden, mit denen uns die Populisten dieser Welt – von Trump bis zu Orban – zumüllen. Die Formel des lebenslangen Lernens wird gerne strapaziert und sie ist gut, wichtig und richtig, aber das, was „Selberdenkertum“ braucht und das, was Menschen zu Freigeistern werden lässt, ist die Förderung jener Fähigkeiten – bildungspolitisch extrafunktionale Fähigkeiten genannt – damit sie sich in einer kommunikationsorientierten Welt zurechtfinden. Ich meine damit weiche Kompetenzen wie Analysieren, Vernetzen, Denken, Begreifen und Verantworten. Wo werden diese Fähigkeiten vermittelt, um die Komplexität der Welt, in der wir leben, zu verstehen? Alle Systeme scheinen auf Angepasstheit und auf (Selbst)Optimierungswahn ausgerichtet zu sein. Alles muss normiert werden, alles muss in irgendwelche Schablonen und Schubladen reingepresst werden, damit alles leicht organisiert und beherrschbar ist. So erfolgen heute Personalauswahlen für Unternehmen, so werden Kriterien festgelegt und die, die dieser Norm nicht entsprechen, werden an den Rand gedrängt. Ich bin der festen Überzeugung, nur durch das Außergewöhnliche, nur durch die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, anders zu denken, im Sinn von Ermutigung, ausgetretene Pfade zu verlassen – nur so kann sich eine Gesellschaft weiterentwickeln und resistent gegenüber politischen Vereinfachern werden.
Zum Kongress erleben & lernen | 2018 erscheint auch ein Buch, meinen gesamten Diskussionsbeitrag gibt es hier in einer ungekürzten Version als PDF.