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Pflichtfach Herzensbildung

„Die Schüler werden im täglichen Schulbetrieb für ethisch-soziale Fragen sensibilisiert und lernen früh, Verantwortung zu tragen“, sagte der Jury-Sprecher Michael Schratz in der Begründung, warum der diesjährige, mit 100.000 Euro dotierte Deutsche Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung an die evangelische Schule Neuruppin verliehen wird. In Brandenburg gründeten Eltern vor fast 20 Jahren diese Schule mit dem Pflichtfach Herzensbildung. „Wertefragen sind uns wichtig und zu lernen, stets Fragen im Leben zu stellen”, das scheint das banal klingende, aber sehr wirkungsvolle Konzept zu sein, wie es die Rektorin der Schule, Anke Bachmann im Nachrichtensender n-tv formuliert. Bei der zentralen Immatrikulationsfeier der *Freien Universität Berlin im Jahr 2008 sagte der damalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Horst Köhler: “Nicht allein auf das akademische Wissen kommt es an: Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, intellektuelle Redlichkeit und Herzensbildung sollten die Studierenden entwickeln und im Umgang mit anderen zeigen.”

Ich bin viel unterwegs und habe schon dadurch häufig die Gelegenheit, andere Menschen zu beobachten. Ich sehe sie auf Plätzen, in den Straßen, in der U-Bahn, im Zug, im Flugzeug, in Restaurants, in Cafes oder in Besprechungszimmern und Büros – doch was ich fast nie sehe, das ist ein von Herzlichkeit geprägter Umgang. Oft habe ich den Eindruck, dass Menschen schon deshalb irritiert sind, nur weil man sie grüßt. So viel an persönlicher Ansprache sind Menschen nicht mehr gewohnt, die ihre sozialen Beziehungen auf Plattformen im Internet reduzieren. Versuchen Sie mal in eine U-Bahn einzusteigen oder auszusteigen, zur Rush Hour vielleicht. Sehe nur ich diese unter Strom stehenden Menschen, die so tun, als ob es nur sie auf der Welt gäbe? Oder gestern am Abend am Flughafen Wien: ich gehe zur U-Bahn, ein Mann liegt am Boden, die Menschen gehen teilnahmslos vorbei, als ob das zur Normalität gehört. Mich kotzt diese zwischenmenschliche Verwahrlosung wirklich an! Menschen, die nur anlassbezogen Umgangsformen haben, die nur dann die Grundregeln des Anstands beherrschen, wenn es um sie selbst geht, aber zu sozialen Analphabeten werden, wenn Nachbarn, Freunde, die Gesellschaft Unterstützung benötigen.

Ihr seid „verhätschelt, verwöhnt, umschwärmt“, hielt David McCullough Jr., den Absolventen der elitären Wellesley Highschool einen Spiegel vor das Gesicht. Bei deren Abschlussfeier zu Monatsbeginn las der Englischlehrer und Sohn des gleichnamigen Historikers und Schriftstellers den Anwesenden Schülern die Leviten. „Bildet euch nicht ein, ihr wäret etwas Besonderes. Denn ihr seid es nicht. Ihr wurdet verhätschelt, verwöhnt, umschwärmt, geschützt, in Luftpolsterfolie gesteckt.” Er forderte die Absolventen auf, sich für andere Menschen einzusetzen und nicht nur sich selbst zu sehen. *McCulloughs eindringlicher Appell ist mittlerweile ein Hit auf Youtube. „An diese Rede werden sich die Leute erinnern, weil er Dinge gesagt hat, die jeder weiß, trotzdem traut sich niemand, sie auszusprechen,“ zitierte ein Reporter von ABC News die Mutter eines Jugendlichen. Meine Redensart merke ich an, dass wir aus falscher Rücksichtnahme stundenlang über Rechte des Einzelnen reden, aber kaum über Pflichten, die ein Mensch für sich und seine Umwelt hat.

Großes kann auch im Kleinen beginnen, wie ich meine. Der von mir sehr geschätzte Schauspieler und Landsmann August Schmölzer hat in seiner Heimatgemeinde St. Stefan ob Stainz vor einigen Jahren die *Plattform “Gustl 58 – Initiative zur Herzensbildung” gegründet. Ein großartiges Beispiel dafür, wie auch im persönlichen Lebensraum ein wesentlicher Beitrag für eine bessere Welt geleistet werden kann. In einer *Rede anlässlich der Verleihung des Josef Krainer Preises im November 2009 formulierte er seine Sicht der Dinge: “Etwas, das jeder Mensch hat, das nur verschütt gegangen ist und wieder frei geschaufelt und bewusst gemacht werden muss: Mitgefühl, Respekt, Integrität, Anständigkeit, Augenmass, Großmut, Toleranz: Nämlich Herzensbildung.” Wie recht er doch hat, vielleicht sollten wir uns alle mal auf die Suche nach unseren verschütteten Werten begeben. Ein Pflichtfach für Herzensbildung könnte insbesondere die nachkommende Generation bei der Erforschung des eigenen Werteverhaltens unterstützen.

* http://www.fu-berlin.de/sites/ * http://www.spiegel.de/schulspiegel/ * http://www.herzensbildung.at/ * http://www.herzensbildung.at/de/texte.html