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“Ohrwaschlbrocken” frei nach Montaigne

Der 1533 auf Schloss Montaigne im Périgord geborene Begründer der Essayistik, Michel de Montaigne, sagte einmal “Das Wichtigste ist, Lust und Liebe zur Sache zu wecken, sonst erzieht man nur gelehrte Esel”. Das lernte ich dieser Tage, als ich in Bonn verweilte und einem Freund bei einem Vortrag aufmerksam zuhörte, als er sich mit dem Zeit seines Daseins im Südwesten Frankreichs lebenden Politiker und Philosophen beschäftigte. Knapp 500 Jahre später denke ich mir, dass die Zeiten der Lust und Liebe wahrlich vergangen sind. Die von Michel de Montaigne gefürchteten Esel der Lustlosigkeit scheinen eine Renaissance zu feiern. Angepasst, um keinen Preis auffallend, sich bis zur Selbstaufgabe unterordnend, so präsentiert sich mir heute der Großteil der gesellschaftlichen Elite. Niemals anecken, immer ein Schlupfloch offenlassen, keine Meinung vertreten, sich allem und jedem anpassen, scheint die größte Disziplin einer konturlosen Gesellschaft geworden zu sein. Wieder mal frage ich mich: was muss das für ein Leben sein – alle Bedürfnisse nach Freude, Lust und vor allem dem Ausleben der selbigen hintan zu halten? Lassen Sie sich, verehrte Leserinnen und Leser meiner Kolumne, nicht dabei ertappen, dass Sie Ihre Gedanken dabei in die horizontale Richtung lenken. Im Gegenteil: meine Vermieterin, die ehrwürdige Gräfin Andrea Nyary-Normann, empfahl mir kürzlich die Lektüre des Buches “Der grobe Brief” aus dem Jahr 1940. Dieses stammt aus einer Zeit, in der nachweislich viele Esel, vornehmlich braune, am Werk und an der Macht gewesen sind. Auf meinem Flug nach Köln in dieser Woche las ich das Buch und war über die Derbheit der Worte anfangs irritiert. Aber die einzelnen Briefe in diesem Sammelband, welcher Oberstleutnant Bruno Duday gewidmet ist, haben allesamt etwas gemeinsam: sie strotzen vor Lust am Leben und der furchtlosen Begegnung mit den Unwegbarkeiten des Lebens.

Herzog Ludwig von Bayern zieht dabei in einem aus dem Jahr 1419 überlieferten Brief an Friedrich I. von Hohenzollern ebenso vom Leder, wie Kaiserin Maria Theresia, 1779, in einem Schreiben an ihren Sohn Erzherzog Ferdinand, dem sie wegen seines Lebenswandels die Leviten liest. Die freundlichste Formulierung ist noch der Schluss des Appells an ihr “Sorgenkind”, als sie Gott um Erleuchtung für ihren Knaben und die Erhörung ihrer Gebete an den selbigen bittet. Dagegen lesen sich die Schreiben eines nicht näher benannten Dichters “M” aus dem Jahr 1930 nahezu harmlos. Er überlebte einen Verkehrsunfall, als er von einem Auto schuldlos niedergestoßen wurde und anschließend wegen Nichtbeachtung der Verkehrsvorschriften einen Strafbefehl von 15 Mark erhielt. Einspruch erhob er gegen die Strafe, weil er das Geld nicht hatte, und er übermittelte der Behörde eine Autogrammkarte seiner Person mit dem Hinwies, dass diese aktuell mit 50 Mark gehandelt werde. Seiner Rechnung nach führte das zu einem Saldo von 35 Mark zu seinen Gunsten, und er ersuchte das Amtsgericht um eine entsprechende Rücküberweisung der Differenz. Konsequenzen dieser unterhaltsamen Begebenheit für den Dichter sind nicht bekannt. Heute würde vermutlich irgendein Rechtspraktikant in einem Gericht bei der Aufzählung all jener Paragrafen, mit denen derlei Missachtung der Behörde zu ahnden wäre, nahezu juristische Höchstgefühle entwickeln. Spätestens jetzt sollte ich aus Selbstschutz darauf hinweisen, dass der Esel, der als Amtsschimmel seinen Dienst geflissentlich versieht, derlei Amtshandlungen nicht aus Bosheit setzt, sondern dem Gesetz verpflichtet die Keule der Justitia schwingt. Übersetzt in das 21. Jahrhundert hat man sehr oft den Eindruck, dass die Justiz in erster Linie mit Kanonen auf Spatzen schießt, aber selbst zum Spatz wird, wenn es um all die korrupten Kanonen in unserem Land geht.

Vielleicht sollten wir es dabei bewenden belassen. Immerhin möchte ich mich ja dem Thema Lust und Liebe am Leben widmen, das mir in dieser Woche ungeahnt Michel de Montaigne bescherte, welchen mein schon oftmals genannter intellektueller Zuchtmeister Dieter als den “ersten Blogger der Welt” bezeichnet. Ob ich jemals die Chance haben könnte, zu einem geistigen Nachfahren des französischen Intellektuellen zu avancieren, wird die Geschichte erst weisen! Wie auch immer, vielleicht sind es die Frühlingsgefühle, die mich beschäftigen, denn der Winter hat mich und uns lange genug geknechtet. Nochmals komme ich zum Dichter “M” zurück, der ein richtiges Schandmaul und ein Sexist obendrein gewesen sein muss. Hat er diesen vielleicht sogar begründet? Die Frage drängt sich spätestens jetzt auf, als ich in dem unter der Naziherrschaft erschienenen Buch den Brief an eine Abgeordnete des damaligen Reichstages nachlesen konnte, in welchem sie zu einem Vortragsabend zum Thema “Frauenbewegung” geladen hatte. Offensichtlich sollte “M” dafür von den Veranstaltern vor deren Karren gespannt werden, was ihn angesichts der von der Krise geschüttelten Welt sehr empörte. Er forderte die Abgeordnete auf, all diese dialektische Quacksalberei zu unterlassen und wünschte ihr ein “heftiges Genesungsfieber”. Bevor er dann am Ende seines Schreibens nochmals seine Sicht der Dinge präzisierte: “Frauen muss gesagt werden, dass die einzige Frauenbewegung, die ich als Mannsbild anerkenne, im Bette stattfindet.” Datiert, München 31. Dezember 1931. Aus lustvoller Perspektive betrachtet, handelt es sich hierbei um ein sehr anmaßendes und frivoles Wortspiel, das natürlich aus all den Erfahrungen und  Erkenntnissen der Political Correctness im Jahr 2013 aufs Schärfste verurteilt werden muss.

Das führt mich zu einem anderen Gedanken.Wir nähern uns dabei der Bestrafung für verbale Entgleisungen, die im Widerspruch zu all der angestrebten gelebten Menschlichkeit im Alltag steht. Ich möchte bewusst überzeichnen und mit dem Beispiel der “WEIO” provozieren. Darunter versteht man die World Eskimo-Indian Olmypics. Ein zentraler Wettbewerb dieser Spiele ist das “Ear Pull”, eine Art Tauziehen mit dem Ohr, bei dem schon mal das eine oder andere Ohr halb abgerissen und anschließend gleich wieder angenäht wird. In meiner Vision könnten wir eine solche Competition zwischen “Lebenszeitbejahern” und “Lebenzeitsabsitzern” durchführen. Was glauben Sie, wer wohl gewinnen würde? In unserem Kulturraum könnten wir diese wettbewerbsmäßige Form schlicht als “Ohrwaschlbrocken” definieren, frei nach dem Motto: wer schon nicht hören will, der sollte zumindest fühlen! Irgendwie scheint mir, dass ich ein wenig vom Thema abgewichen bin, aber ein bewegendes Zitat von Michel de Montaigne bringt einen in meiner persönlichen Lebensphilosophie verankerten Grundgedanken zum Ausdruck: „Wir trachten nach anderen Lebensformen, weil wir die unsere nicht zu nutzen verstehen. Wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen – auch auf ihnen müssen wir mit unseren Beinen gehen. Und auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Arsch.“ Wir täten gut daran, mehr in uns selbst und in unsere (Lebens-)Fähigkeiten zu vertrauen!