Zero Tolerance im Sündenpfuhl
Wäre ich ein Pessimist, würde ich jetzt schreiben: Die Welt ist schlecht. Die Menschen sind niederträchtig. Banker verzocken das Geld gutgläubiger Anleger. Kranke Hirne vergreifen sich an unschuldigen Kindern. Die braune Brut darf von höchster Stelle gedeckt ihrer Mordlust frönen. Ganze Nationen rennen blindlings in den Ruin, getrieben von Machtgeilheit und Streben nach dem eigenen Vorteil. Sie alle kriegen den Hals nicht voll genug vor lauter Gier nach schnellem Geld, Status oder Lustgewinn. Und warum? Weil keiner verzichten will. Weil Verzicht in unserer Realität ein Systemfehler ist. Wer verzichtet, torpediert den zentralen Antriebsmechanismus des Kapitalismus: das Habenwollen.* In letzter Zeit habe ich viel nachgedacht, darüber wie Menschen miteinander umgehen. Vom Geben und Nehmen, von Gier und Egoismus. Vom Hohn und der Rücksichtslosigkeit, die einem entgegenschlägt, wenn man selbst gerade eine Baisse durchlebt. Kommen nur Arschlöcher weiter? Musst du wirklich ein Schwein sein in dieser Welt? Gilt immer und überall nur das Prinzip „Ich zuerst“? Spielen wir uns gegenseitig so lange aus, bis wir am Ende alle das Spiel verloren haben?
Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem Mann, der im Juni 2012 eine Burnout-Konferenz in Wien veranstalten wird. Ich wurde eingeladen, einen Vortrag als Scheiterexperte zu halten. Wir trafen einander im Bräunerhof in der Wiener Innenstadt. Nachdem ich von Natur aus neugierig bin, fragte ich ihn: „Gibt es eine Formel, einen Leitsatz, den ich mir hinter die Ohren schreiben kann, um ein Burnout zu vermeiden?“ Seine Antwort: „Schauen Sie, dass sie sich so viele Glücksmomente wie möglich bescheren, dann werden Sie niemals diese Krankheit bekommen.“ Das klingt plausibel für mich. Und schließt irgendwie den Kreis. Denn bei wirklichem Glück geht es nicht um schnelles Geld, Status oder Lustgewinn. Es geht immer um die innere Einstellung, es geht um die Zufriedenheit in uns selbst. Die kann man so nicht kaufen und die werden die Arschlöcher dieser Welt vermutlich nie verspüren.
Am Nebentisch im Bräunerhof frühstückte gerade Ben Becker. Im Jahr 2008 war ich auf Einladung des SWR auf der Buchmesse in Frankfurt. Am selben Abend war ich deren Gast bei der von Ben Becker inszenierten Bibel Lesung. Das gehörte mit zum Besten, was ich kulturell jemals erlebt habe. Gemeinsam mit dem „Deutschen Filmorchester Babelsberg“ und seiner „Zero Tolerance Band“ setzte Ben Becker das Buch der Bücher in einer bombastischen Performance um. Die dreitausend Menschen im Saal, ob gläubig oder nicht, waren gefesselt. Und das lag nicht allein an Beckers unglaublicher Bühnenpräsenz. Ich selbst habe ein ambivalentes Verhältnis zu Kirche, Glauben und Religion. Aber als Ben Becker mit seiner rauchigen, sonoren Stimme, die zeitweise kippte, so sehr steigerte er sich in die Worte hinein, in die Dunkelheit des Saals brüllte: „Und er rief seine 12 Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie sie austrieben…“, ging das unter die Haut. Seine Worte gingen bei allen Menschen im Publikum ans Eingemachte, brachten sie dazu die eigene Perspektive zu überprüfen.
Ich erinnere mich an ein anderes exzentrisches Ausnahmetalent, das mit dem Finger auf den Sündenpfuhl Menschheit zeigte. Die Zeit schrieb damals: “Ganz allein auf der weiten Bühne steht das Enfant terrible, fest umklammert er das Mikro. Die blonden Haare wirr, das bunte Hemd weit offen, die Augen irre. Er ruft mit seiner bebenden, einzigartigen Stimme: „Wer von euch nicht nur eine große Schnauze hat, sondern wirklich ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Empörte „Blasphemie!“-Rufe im Publikum. Es ist der 20. November 1971, die Deutschlandhalle in Berlin. Der blonde Prediger ist Klaus Kinski, genialer Psychopath, jähzorniger Charismatiker.”**
Das Wort Sünde klingt irgendwie altmodisch, bigott. Warum regt uns das Thema dennoch so auf? Möglicherweise weil tatsächlich keiner von uns frei davon ist? Möglicherweise weil Gelegenheit Diebe macht? Möglicherweise weil es bei jedem von uns angebracht wäre, öfter einen Moment lang inne zu halten und das eigene Handeln zu hinterfragen? Im Umgang mit unserer Umwelt, mit unseren Geschäftspartner, unseren Mitarbeitern, unseren Freunden, Partnern und Familien? Aber das ist alles bloße Theorie. Ich bin ja kein Pessimist.
* www.zib21.com
** Die ZEIT, Mai 2008