Wie wäre es mit einer digitalen Diät?
Vor einigen Tagen sagte ein alter Mann, den ich als gütigen Freund bezeichnen würde, zu mir “Wie wäre es, wenn wir wieder mal auf einen Frühschoppen gehen?”. Der betagte Herr, weit über 80 Jahre alt, erzählte mir, dass diese Zusammentreffen in früheren Zeiten etwas besonderes gehabt haben. Am Land war das so, dass die Männer mit ihren Frauen, oder jenen, die es werden wollten, gemeinsam zur sonntäglichen Messe in den Ort gingen. Auf dem Weg in die Kirche schoben die Männer das Fahrrad der Damen, damit diese den Weg mit ihren Begleitern gemeinsam gehen konnten. Nach dem sonntäglichen Kirchgang fuhren die Frauen damit nach Hause, um das Mittagessen vorzubereiten. Die Männer versammelten sich jedoch vor der Kirche. Aus finanziellen Gründen wurde der Weg zum Frühschoppen ins Wirtshaus nicht regelmäßig beschritten, oftmals reichte der Vorplatz vor dem Gotteshaus, um mit anderen Menschen, mehrheitlich Männern, zu kommunizieren.
Lassen wir einmal Aspekte der Gleichberechtigung weg. Können Sie sich, verehrte Leserinnen und Leser meiner Kolumne, daran erinnern, wann Sie das letzte Mal mit Menschen im Halbkreis auf einem Platz gestanden haben, um Fragen des Alltags zu besprechen? Wann Sie den Dialog mit Menschen gesucht haben, von Angesicht zu Angesicht – und nicht nur via Skype, Facebook oder Twitter? Warum haben wir diese reale Gesprächsform in unseren Breiten nahezu verlernt, während auf einem Platz stehende, sprechende und gestikulierende Menschen zum Stadtbild eines Urlaubes im Süden Europas gehören, wenn man dort durch die Straßen flaniert, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Ich weiß schon, dass auch in diesen Ländern WEB 2.0 Technologien Alltag sind, aber es scheint, dass ebenso wahrhaftige Gespräche zwischen Menschen eine unverzichtbare Ebene der Kommunikation darstellen.
„Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen”, befand schon einer meiner Lieblingsphilosophen, Karl Jaspers (1883-1969). Aber wo und mit wem reden wir, um die Menschlichkeit zu fördern, frage ich mich? Haben wir die Kommunikation nicht zu einem rein anlassbezogenen Prozess verkommen lassen? Ist es nicht so, dass all die Menschen verbindenden Technologien zwar räumliche Distanzen verringern, aber zugleich den emotionalen Abstand zwischen Menschen vergrößert haben? Die bekannte US-Soziologin Sherry Turkle* beklagt in ihrem neuen Buch „Verloren unter 100 Freunden“, dass wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. Auf Grundlage umfangreicher Studien kommt die Professorin vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu einem alarmierenden Schluss: “Beziehungen zu pflegen, Freundschaften in Gesprächen zu vertiefen und Liebe durch Fürsorge zu geben, erscheint Menschen heute oft zu kompliziert. Allein zu sein ist für die meisten aber mindestens genauso unerträglich. Und so kommunizieren sie rund um die Uhr im Netz und werden zunehmend unfähig, echte Gespräche zu führen. Sie haben zahlreiche Facebook-Freunde – und sind einsam.” Ein wirksames Konzept, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wäre eine digitale Diät oder digitale Ruhepausen, wie sie die Expertin fordert, um an bestimmten Orten wieder menschliche Konversation stattfinden zu lassen. In diesem Sinne freue ich mich auf Anfragen und Einladungen zu realen Gesprächen – vielleicht auch bei einem Frühschoppen!
* http://futurezone.at/digitallife/