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Was mir wichtig ist…

Würde mich jemand danach fragen, welche Persönlichkeiten mich ob ihres Denkens, ihrer Beharrlichkeit und ihrer intellektuellen Widerstandsfähigkeit beeindruckt haben, dann würde mir ein Name sofort in den Sinn kommen. Die physisch gesehen zierliche Gestalt war eine im Geiste große Dame, die heute auf den Tag genau vor 10 Jahren verstorben ist. Sie wurde am 2. Dezember 1909 im damaligen Ostpreußen geboren, war Chefredakteurin und Herausgeberin einer der bedeutendsten Wochenzeitungen im deutschen Sprachraum. Als eine der wichtigsten Publizistinnen der Nachkriegszeit unterstützte sie in ihren Leitartikeln viele gesellschaftliche Anliegen und forderte vor allem die einzelnen Menschen zu freiem Denken, Toleranz und Gerechtigkeit auf. All diese Werte waren für Marion Gräfin Dönhoff unverrückbar.

Es war Mitte der 90er Jahre, als ich die Autorin von mehr als 20 Sachbüchern für mich entdeckt habe. Ihre Bücher “Was mir wichtig war oder Zivilisiert den Kapitalismus liegen seit Jahren immer in Griffweite auf einem meiner Bücherstapel. Das letzt genannte Buch erschien im Jahr 1997, nach einer 1996 gehaltenen Rede Dönhoffs. Es setzt sich kritisch mit den Auswüchsen des Kapitalismus auseinander und beschreibt in zwölf Thesen die Maßlosigkeit der Gesellschaft. Sie warnte in diesem Standardwerk des moralischen Handelns, wie ich es bezeichnen würde, vor einem zunehmenden Egoismus und vor Korruption, die den Alltag zunehmend bestimmten. In ihren Feststellungen richtete sie sich sowohl an die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger selbst, als auch an die Gesellschaft insgesamt. Die vor 15 Jahren formulierten Problemstellungen von Marion Hedda Ilse Gräfin Dönhoff, wie sie mit vollem Namen geheißen hat, könnten aktueller nicht sein. Egal, ob man die Medien hier oder anderswo liest, schaut oder hört.

Neben dem Bestseller “Die Macht des Einfachen” von Jack Trout und Steve Rivkin aus dem Jahr 2002, habe ich kein Buch so oft verschenkt, wie Gräfin Dönhoffs publizierte Rede aus dem Jahr 1997. Sie fragt in ihrem leidenschaftlichen Plädoyer* für einen neuen Bürgersinn: “Warum treten die Leute aus der Kirche aus? Warum verlieren Parteien und Gewerkschaften angestammte Mitglieder? Warum schimpfen die Bürger auf die Politiker und die Politiker auf die Medien? Kurz gesagt: Warum so viel Frust, wo es doch den meisten so gut geht wie nie zuvor?” Eine der zentralen Schlussfolgerungen lautet: “Die Marktwirtschaft beansprucht den Menschen ganz und duldet keine Götter neben sich. Ihr Wesen ist der Wettstreit und ihr Motor der Egoismus: Ich muss besser sein, mehr produzieren, mehr verdienen als die anderen, sonst kann ich nicht überleben. Die Konzentration auf dieses Prinzip hat dazu geführt, dass alles Geistige, Kulturelle an den Rand gedrängt wird und schließlich immer mehr in Vergessenheit gerät.”

Hinter dieser Analyse verbirgt sich eine zentrale Aussage, ein Umstand, der in unseren Debatten so gut wie nicht vorkommt. Es ist die Frage nach Orientierung, es ist die Debatte darüber, was dem Menschen einen Weg weisen kann, in einer Welt, die an Unübersichtlichkeit kaum noch zu überbieten ist. Was ist die Basis, die Grundlage unseres Handelns? “Das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, dass man sich fragen muss: Kann eine Gesellschaft unter solchen Umständen überhaupt leben?” wie es Marion Gräfin Dönhoff Ende des 20. Jahrhunderts in einer dramatischen Fragestellung auf den Punkt gebracht hat. Wenn wir wollen, dass die Gesellschaft von sich aus eine regenerative Kraft der geistigen und moralischen Erneuerung entwickelt, dann werden wir uns alle gemeinsam auf Verhaltensnormen und ebensolche Regeln verständigen müssen. Ohne diesen ethischen Minimalkonsens wird der Egoismus weiter zunehmen und das Gemeinschaftsgefühl noch weiter abnehmen. Ob sich Zukunft auf diese Weise gestalteten wird, ist nicht nur Aufgabe des Staates, sondern jedes einzelnen von uns.