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Von erdrosselten Witwen und dem Salz des Lebens

Meine letzten Blogs hatten eigentlich wenig Existenzielles für die Nachwelt zu bieten. Wenn ich rückblickend meine gesamte Umzugsstory lese, dann kann ich meine Verärgerung über das eine oder andere Erlebnis dabei eher als emotionale Momentaufnahme abhaken, aber nicht als analytischen Diskurs über die Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen. Meine Aufzeichnungen über die Erlebnisse bei T-Mobile haben zumindest eine gewisse Höhenwirkung erlangt, wenn ich mich mit einiger Genugtuung darüber erfreue, dass sich sogar die Vorstandsetage des pinkfarbenen Telefonanbieters mit meiner Causa beschäftigt hat. Aber es ist meine Begegnung mit dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen elektronischen Vermittlungsamt für Telefongespräche im 21. Jahrhundert ein bedauerlicher Einzelfall gewesen, der sonst so nie vorkommt, wie mir versichert wurde. Glauben versetzt ja bekanntlich Berge, aber was ist mit Fehlglauben, könnte ich den Rechtfertigungen von T-Mobile erwidern. Mein soeben begründeter “Salon Schwindgasse” könnte da einiges mehr an Bedeutung erlangen, da dort nicht bis zur Selbstaufgabe der Realität entfernte Debatten geführt werden sollen, sondern Klartext auf höchstem Niveau die Zielvorgabe ist.

Das neueste Buch von Jared Mason Diamond, dem 1937 in Boston geborenen Evolutionsbiologen, könnte so ein Diskussionsbeschleuniger für meinen “auf der Wieden” initiierten Gesprächsklub sein. “Das Hauptmotiv für seine anthropologischen und historischen Arbeiten sieht Diamond darin, nicht-rassistische Erklärungen für wesentliche Merkmale der menschlichen Geschichte zu finden”, kann zu seiner wissenschaftlichen Arbeit erklärend auf Wikipedia* nachgelesen werden. In seinem soeben erschienenen “Vermächtnis”, so der Titel seines bei S. Fischer publizierten Werkes, können einige interessante Dinge nachgelesen werden. “Ich habe 39 Gesellschaften auf der ganzen Welt untersucht, und berichte einfach, was bei denen gut funktioniert”, führt der Autor in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus. Für mich sind seine Erkenntnisse wirkliches Neuland, zumindest beim ersten Gedankengang, beim Nachdenken darüber sind viele seiner Ausführungen unter “eh klar” abzuhaken. Ich wusste nicht, dass die Zugabe von Salz bei Speisen ein wesentlicher Grund für Schlaganfälle und Herzinfarkte ist. Seit die Lebensmittelindustrie in Finnland und Portugal jedes Jahr zehn Prozent weniger Salz benutzt, ging die Zahl der Herzinfarkte um 80 % zurück. Wie einfach Gesundheitsprävention funktionieren kann, oder?

In unseren Breiten wird alles und jeder reglementiert. Ich meine, dass die bei uns noch immer anhaltende Überversorgung und Bevormundung des Einzelnen zu diesem Mangel an Selbstinitiative und Eigenverantwortung führt. Wenn Sie einmal nach Asien reisen, dann wissen Sie, was ich meine. Bei uns wird auf Autobahnen für mehr Verkehrssicherheit geworben, in Malaysia beispielsweise wird den Leuten mit Transparenten auf Autobahnbrücken hängend vermittelt, dass Bildung der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben ist. In Papua-Neuguinea beginnt die Heranführung an die Lebensrealität schon im Säuglingsalter. Während bei uns Babies immer zu Mutter oder Vater gewandt getragen werden, sind Kinder in dem zum australischen Kontinent zählenden drittgrößten Inselstaat der Welt im wahrsten Sinn des Wortes “Senkrechtstarter”. Kleinkinder werden dort nur senkrecht nach vorne blickend getragen. Die ganz banale Begründung “Sie sehen das, was Mutter oder Vater sehen. Sie bekommen das Gefühl, die Welt zu beherrschen”, liefert Diamond eine für mich sehr einleuchtende Erklärung.

Eine andere Geschichte ist die vermutlich mit Nahrungsknappheit begründete Erdrosselung von Witwen beim Stamm der Kaulong. “Das klingt dramatischer als es ist”, führt der 75jährige US-Amerikaner aus, werden doch in Neubritannien “nur” in zwei von 100 Stämmen Hinterbliebene vorzeitig der Nachwelt zugeführt. Aber warum das so ist, weiß man nicht genau, irgendwas ist irgendwann mal vor schätzungsweise 500 oder 1000 Jahren passiert, nur wurde vergessen was. Die Kaulong kennen keine Schrift, daher wird man niemals herausfinden was der Anlass gewesen ist, die mordende Tradition wird einfach fortgesetzt. In diesem Sinne ist es schon ein gewisser Vorteil, dass wir keine traditionell organisierte Gesellschaft sind, sondern ein Staat, dessen Hauptzweck es ist, den Frieden unter seinen Bürgern zu erhalten. Abgesehen von dieser elementaren Funktion einer geregelten Gesellschaft ist schon interessant, dass Kulturen, die sich selbst organisieren müssen, den Menschen wesentlich mehr an Eigeninitiative angedeihen lassen. “Ob wir die Atombombe haben oder nicht – unsere Babies können wir trotzdem senkrecht tragen, und unsere Alten müssen nicht alleine sein”, gibt der Kulturanthropologe weiters zu Protokoll. Berechtigte Einwände, über die wir meines Erachtens nachdenken sollten!

http://de.wikipedia.org/wiki/Jared_Diamond