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Vom Privileg, selbstbestimmt zu leben

Der Himmel ist grau verhangen, vom Schneefall der letzten Woche ist wenig geblieben, der Matsch klebt an den Schuhen, der Wind pfeift durch die Stadt, so könnte man den heutigen Morgen in Wien beschreiben. Die Wettprognose für den 15. Februar scheint ausnahmsweise zu stimmen, der starke Wind lässt die Außentemperatur noch kälter fühlen. Nahezu jeden Tag gehe ich die selbe Route beim Volkstheater vorbei, rüber zum Volksgarten, Hofburg, Innenstadt. Manchmal sehe ich auf meinem Weg in die City den Wagen des Bundespräsidenten vor seinem Amtssitz vorfahren. Heute treibt mich der Wind nahezu alleine durch die Straßen, so stark bläst er durch die Bundeshauptstadt. Die Menschen halten mit ihren Händen die Hüte am Kopf und drücken die Kleidung noch stärker an den Körper, um sich vor dem Sturm zu schützen.

Als ich bei der Präsidentschaftskanzlei vorbei gehe und in die Schauflergasse Richtung Michaelaplatz einbiege, lehnt eine Frau hilflos an der Mauer des Bauwerkes. Sie steht schutzlos hier, gestützt auf zwei Krücken, ihre Beine sind stark verkrümmt, sie hat eine Tasche umgehängt, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Sie spricht mich mit leiser Stimme an. Anfangs verstehe ich sie nicht. Ich gehe näher zu ihr hin, sie sagt “Ich schaffe die paar Schritte über die Straße nicht, der Wind geht heute so stark. Mit meiner Behinderung ist das unmöglich.” Sie fragt mich, ob ich sie über die Gasse zum Eingang des Kanzleramtes begleiten kann. Sie hängt sich bei mir ein, ich stütze sie, wir übersetzen die Straße. Es waren vielleicht an die 50 Schritte von der einen Straßenseite zu anderen, die sie alleine, unter den heutigen Wetterbedingungen, wohl nicht geschafft hätte. Als ich mich bei ihr verabschiede und ihr einen guten Tag wünsche, bedankt sie sich, den Blick nach unten gesenkt, verschämt.

Mein Eindruck war, dass diese Frau schon einige Zeit hilfesuchend vor dem Haus gestanden hatte. Einige Menschen werden wohl schon an ihr vorbeigegangen sein. Wenn man morgens durch die Stadt geht, herrscht überall hektisches Treiben, die Menschen nehmen voneinander keine Notiz. Jeder ist mit sich beschäftigt, mit den Gedanken irgendwo, oder telefoniert. Bewusstes Wahrnehmen sieht anders aus. Ich registrierte diesen Menschen, weil ich ausnahmsweise einmal nicht telefoniert, ge-sms-est oder sonst was habe. Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im “Griensteidl”, einem Café in der Wiener Innenstadt, und warte auf einen Termin. Ich denke mir, wie oft gehen wir alle an irgendwelchen Leuten vorbei und nehmen sie gar nicht wahr. Vielen von ihnen könnte ein wenig Aufmerksamkeit im besten Sinn des Wortes helfen. Daran sollten wir alle öfter mal denken, schon deshalb, weil wir das Privileg haben, selbstbestimmt durchs Leben gehen zu können.