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Verrückte dringend gesucht!

Gestern Vormittag war ich in einem Aufnahmestudio und habe der Vertonung eines Spots beigewohnt, in dem wir das berühmte Kafka-Zitat „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ verfilmt haben. Der Ausspruch entstammt einem Brief von Franz Kafka an Oskar Pollak, vom 27. Januar 1904, und wurde in seinen gebundenen Briefen 1902-1924 veröffentlicht. Die Idee dazu entstammte einer Debatte, die ich mit ein paar Freunden vor einiger Zeit im Rahmen einer Projektbesprechung geführt habe. Nachdem uns diese Idee nicht mehr losgelassen hatte, haben wir eine Crew organisiert und im Wiener Prater vor ein paar Wochen diese Szene verfilmt. Ein Mann, bekleidet mit einem Bademantel, Russenmütze, Gummistiefeln und einer Axt schreitet durch das Gehölz, der Blick ist völlig apathisch und ins Leere gehend. Er schiebt die Äste, die sich ihm am Weg durch das Dickicht auftun mit seinen kräftigen Händen auf die Seite, die Kamera ist frontal auf ihn gerichtet und geht mit ihm mit, die Bilder sind bedrohlich. Der finnische Schauspieler, den wir für diesen Spot gewinnen konnten, steht plötzlich auf einer Lichtung, der Wald ist hinter ihm, vor ihm tut sich eine große freie Fläche auf, eine Wiese. Dort steht ein Tisch mit einem riesengroßen Eisklotz, unser Darsteller geht auf ihn zu, er holt die Axt aus und zertrümmert das Eis, er schlägt wie außer sich auf das Objekt ein, tausende kleine Eisscherben fliegen durch die Luft. Der Blick des Mimen wird entspannter, nahezu erleichtert, er geht davon und verschwindet im Sonnenlicht des Horizonts, am Screen erscheint Kafkas Zitat. Im Tonstudio haben wir am gestrigen Tage den Film sozusagen synchronisiert. Die Szenen wurden mit Geräuschen unterlegt, vom Schauspieler wurde schweres Atmen aufgenommen, ein tiefes Brummen seiner Stimme, Schreie, die einem durch Mark und Bein gehen. Eine Atmosphäre entsteht, die in der Kombination zwischen Ton, Stimme und den Bildern irgendwie den Wahnsinn in bewegten Motiven zeigt, ein Psychothriller in einer Länge von 45 Sekunden, wenn man so möchte, jedoch mit einem versöhnlichen Ausgang. Diese Komposition zeigte mir eindrucksvoll, wie schnell ein Ambiente arrangiert werden kann, das den vollkommenen Irrsinn in Szenen fasst. Cut!

Letzte Woche habe ich das Buch “Zehn Tage im Irrenhaus: Undercover in der Psychiatrie” (Aviva-Verlag, 2011) gelesen. Die amerikanische Autorin Nellie Bly verfasste damit 1887 einen Meilenstein des investigativen Journalismus und ein unfassbares Dokument der Psychiatriegeschichte. Noch lange Zeit vor einem Günter Wallraff lies sich die damals knapp 20jährige Frau freiwillig in ein Irrenhaus verfrachten. Aus der „New York World“ Reporterin Nellie Bly wurde zur Tarnung Nellie Brown, ihr damaliger Chef, Joseph Pulitzer, animierte sie dazu. Sie kleidete sich um und ging inkognito in ein Frauen-Behelfsheim und spielte ein geistig verwirrtes Mädchen. Sie behauptete einfach, sich verfolgt zu fühlen und forderte alle möglichen Menschen auf, ihr bei der Suche nach verlorenen Gepäcksstücken zu helfen. Zuerst kam der Arzt, dann die Polizei, dann ein Gutachter, und dann ging es geradeaus in die Frauenpsychiatrie auf Blackwells Island. Die damals 23jährige schreibt in ihrem Buch von himmelschreiender Gewalt, Demütigung und Erniedrigung, von Krankenschwestern mit oft sadistischer Ader und Ärzten, die es (mit Ausnahmen) überhaupt nicht interessierte, was in ihrer Anstalt geschah. Meine Befürchtung ist, dass es diese Missstände auch noch im 21. Jahrhundert gibt! Aber was es bedeutet, in einer solchen Anstalt zu landen, möchte ich nicht besprechen und auch nicht darüber reden, was Menschen dort erleiden müssen, die einer Krankheit ausgeliefert sind, die sie für immer von der Zivilisation wegsperrt. Mich beschäftigt viel mehr, wie so mir nichts, dir nichts ein Mensch dort landen konnte. Ganz normale Menschen teilweise, in dem von Nellie Bly geschriebenen Buch, waren es Frauen, wurden dort eingeliefert, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, weil Ehemänner sie loswerden, weil sich Angehörige unliebsamer Familienmitglieder entledigen wollten. Und dort gelandet, war eine Beweisführung, dass man eigentlich “alle Sinne” beisammen hatte nahezu unmöglich, eine Chance all dem wiederum zu entkommen, aussichtslos. Und diese Perspektivenlosigkeit machte den letzten Normalen verrückt, erzählte Nellie Bly.

Eine ähnliche Erfahrung machte auch der US-Psychologe David Rosenhan vor über 40 Jahren in einem inzwischen berühmten *Experiment. Er stellte eine Gruppe zusammen, bestehend aus einem Maler, einem Studenten, einem Kinderarzt, einem Psychiater, einer Hausfrau und drei Psychologen – einer davon war er selbst. Sie alle mussten sich unter falschem Namen in eine Psychiatrie einweisen lassen und vorgeben, Stimmen zu hören, die ihnen ständig Wörter wie „leer“, „dumpf“ und „hohl“ ins Ohr flüsterten. *Ansonsten sollten sie alle Fragen wahrheitsgemäß beantworten, sich völlig normal verhalten und den Mitarbeitern der Anstalt bei jeder Gelegenheit sagen, dass sie nun keine Stimmen mehr hörten. Sie zeigten sich kooperativ, hielten sich an alle Regeln der Station und nahmen die verschriebenen Medikamente ein. Insgesamt erhielten sie 2100 (!) Tabletten, darunter unterschiedlichste Präparate – alle für genau die gleichen Symptome. Die Pseudopatienten mussten im Schnitt 19 Tage in der Klinik bleiben, ein weiterer wurde erst nach zwei Monaten wieder entlassen. Allesamt völlig gesunde Menschen! *Ironischer Weise waren es die anderen (irren) Patienten, die das Spiel durchschauten. Während der Klinikaufenthalte äußerte ein Drittel von ihnen den Verdacht, dass die Scheinpatienten gar nicht krank seien, einige von ihnen mit großer Treffsicherheit “Sie sind nicht verrückt. Sie sind ein Journalist oder ein Professor. Sie überprüfen das Krankenhaus.” Wie recht der irische Dramatiker und Nobelpreisträger George Bernard Shaw (1856-1950) doch hatte, als er das Zitat „Wir brauchen dringend einige Verrückte. Guckt euch an, wo uns die Normalen hingebracht haben.” formulierte, denke ich mir gerade. * http://www.alltagsforschung.de/ * http://www.nzzfolio.ch/www/