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Vernunft und Rausch

Ich liebe Barcelona. Seit jeher. Aber bei  meinem letzten Besuch vergangene Woche ist mir buchstäblich die Spucke weg geblieben: Neue Architektur, innovative Bauvorhaben, mutige Brückenschläge zur alten Stadtsubstanz allerorten. Diese Stadt scheint im Augenblick nur den Vorwärtsgang zu kennen. Auf dem neuen Messegelände leuchten die verspielten Turmbauten des japanischen Stararchitekten Toyo Ito. Das momentan leerstehende Edificio Forum wird gerade zum Museum für die Naturgeschichte Kataloniens umgebaut. Beim Nouvel-Turm Torre Agbar entsteht das Disseny Hub Barcelona Designmuseum. Demnächst soll vom Edificio Forum ein neuer, drei Kilometer langer Boulevard, Barcelona mit dem Peripherieort Sant Adrià de Besòs verbinden, wo im zukünftigen Bahnhof Sagrera der Hochgeschwindigkeitszug Anschluss nach Madrid bieten wird. Und seit dem Jahr 2001 wird im Stadtteil Poblenou ein 200 Hektar grosses altes Industriegelände für Firmen, Forscher und Anwohner freigegeben. In einem Think-Tank entwickeln sie innovative Konzepte für das neue Viertel 22@Barcelona im Südosten der Stadt.

Hintergrund dieser scheinbar unbezähmbaren Innovationslust: Ein neues gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell, das Ministerpräsident Rodríguez Zapatero jüngst ganz Spanien verordnet hat: die Ökonomie des Wissens. * Klingt gut? Ist es auch. Das  Kulturbudget, das fünf Prozent des Gesamthaushaltes der Stadt ausmacht, ist im Krisenjahr 2009 auf 117 Millionen Euro gestiegen (elf Prozent mehr als im Jahr zuvor). Der Bürgermeister von Barcelona  Jordi Hereu meinte bei der Präsentation der neuen Strategie: „Unsere Wachstumschancen liegen in künstlerischer Erneuerung und Kreativität.“ Schließen sie jetzt die Augen und stellen sie sich vor, wie Michi Häupl diese Worte spricht. Eben. Geht nicht. Ich finde dieses Committment zu Innovation, Kreativität und Gestaltung der Zukunft großartig. Mehr noch: Ich finde Barcelona ist ein tolles Beispiel dafür, dass sich Gegensätze nicht ausschließen, sondern einander brauchen, inspirieren, antreiben. Dass man getrost altes bewahren und dabei auch neues zulassen darf. Schließlich weisen die Katalanen selbst gerne und durchaus mit einem gewissem Stolz auf den Zwiespalt ihres Nationalcharakters hin, in dem sich Seny i Rauxa vereinen, Vernunft und Rausch. Vielleicht lehne mich jetzt weit aus dem Fenster, aber ich sage: Nach diesem Prinzip sollte auch eine Gesellschaft funktionieren, dann würden einige Fragen anders diskutiert werden. Ein Leben im schwarzweißen Spektrum verengt den gesellschaftlichen Horizont. Der lähmende Kulturpessimismus, die dumme Xenophopie, die Mutlosigkeit und Entscheidungsarmut sind das Bremspedal für die Zukunft. Ich denke, ob in Wirtschaft, Politik oder Kultur: Wir könnten doch mutig wie Miró die ganze Farbpalette unserer Möglichkeiten ausschöpfen und uns leidenschaftlich wie Gaudi in neue Projekte stürzen. Ist das zu kühn gedacht? Ein schöner Gedanke wäre es jedenfalls.

* Quelle: Neue Zürcher Zeitung