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Tempo! Tempo! Tempo!

Als Josef Pröll vergangene Woche seinen geordneten Rückzug ankündigte, erstaunte mich dabei am allermeisten die Tatsache, dass er erst 42 ist. 42! Als Mann ähnlichen Alters kommt man da ein wenig ins Grübeln. Ist es tatsächlich der Job des Politikers, der krank macht? Oder ist es vielmehr ein allgemeines Symptom einer Welt der Gleichzeitigkeit? Leben wir ein Leben der permanenten Beschleunigung ohne entsprechendes Beschleunigungsmanagement? Es klingt ja auch verführerisch: Der moderne Mensch von heute wird nicht mehr von Stechuhr und 9to5-Mentalität gegängelt. Leidenschaft für den Job gilt als sexy, das Smartphone heißt nicht von ungefähr so. Weil wir ja ach so flexibel und selbstbestimmt sind in der schönen, neue Arbeitswelt. Gleitzeit und Teleworking als Köder der scheinbaren Freiheit.
Überall hektische Breaking News im Minutentakt. 140 Zeichen pro Message. Das ist das Versmaß des Aktualitätszwanges, an den wir uns längst gewöhnt haben. Oft leben wir unser Leben in atemloser Hast. Als müsse man rennen anstatt zu gehen. Angeblich weil dieses System unbegrenzte Flexibilität von uns verlangt und nicht enden wollende Anpassungsbereitschaft. Arbeit ist heute grenzenlos, hat sich eingeschlichen ins Wochenende und in den Urlaub, in die Nächte und ins Familienleben.

Freizeitaktivitäten mutieren zum To Do am Ende der Liste. An Erholungsphasen erinnert uns der Kalender des Smartphone. Tempo! Tempo! Tempo! So lautet das Mantra des globalisierten Echtzeitmenschen.
Alleine in Deutschland sind 200.000 Menschen arbeitssüchtig, wie der Stern in seiner letzten Ausgabe berichtet. Abhängig von Anerkennung und Beförderung. Viele, die nur noch leben, um zu arbeiten. Die nur arbeiten, um die Leere nicht zu fühlen. Leute, die jeden Morgen im piekfeinen Armani-Anzug ins Office kommen, 16 Stunden ackern und dann spät nachts eine Wohnung kommen, in der die Umzugskisten nach Monaten noch immer nicht ausgepackt sind und  sich die Pizzakartons türmen. Und dabei jahrelang Raubbau an Körper und Psyche betreiben. Bereits elf Prozent aller Fehltage gehen auf das Konto psychischer Erkrankungen. Die Behandlungskosten für depressive Störungen lägen inzwischen bei mehr als vier Milliarden Euro im Jahr. Die Japaner haben das Wort Karoshi: Tod durch Überarbeitung. Hauptsächlich tritt der Exitus durch Herzversagen, Herzinfarkte oder Hirnschläge ein. Japan hat bereits über 350 Behandlungszentren für Arbeitssüchtige eingerichtet.

Und der Begriff der Work-Life-Balance? Irgendwie  längst obsolet. Denn: Wo hört der Job auf und wo fängt das Privatleben an, wenn man während des Urlaubs seine Mails am Netbook abruft? Wenn man beim Abendessen im Bekanntenkreis noch das Networking im Hinterkopf hat? Wenn man in der Agentur am Freitagabend den Projektabschluss gemeinsam  bei ein paar Gläsern Bier feiert? Alles easy, alles smart. Von wegen! Die Coachingbranche für Burn Out und Arbeitssucht boomt. Und gleichzeitig werden neue „junge, Wilde“ verbrannt, die bereit sind, für eine lockende Karrierechance, fast alles zu tun. Die Fassade des smarten Erfolgstypen wird dabei immer schön aufrechterhalten. Dorian Gray lässt grüßen. Es scheint fast, dass in vielen Führungsetagen Mitarbeiter als eine Art nachwachsender Rohstoff gelten.

In diesem Szenario der Hektik fällt mir der Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny an. Dieses preisgekrönte Werk erzählt die Geschichte des englischen Seefahrers John Franklin. Der Held der Geschichte benötigt von Natur aus mehr Zeit, um Dinge zu begreifen und zu reagieren. So schafft er es zu Lebzeiten nicht, einen Ball zu fangen und er antwortet auf Fragen erst dann, wenn es längst zu spät ist. Dafür aber besitzt sein Gehirn die seltene Gabe, die überschüssigen Kapazitäten zu nutzen, um mehr Einzelheiten aufzunehmen als üblich. Die Wahrnehmung dieser Details lässt John Franklin bessere Entscheidungen treffen als andere Menschen. Diese scheinbare Schwäche wurde zu seiner wahren Stärke. Eine Geschichte, aus der wir vieles für uns ableiten können. Ich denke mir, in einer Welt der Gleichzeitigkeit muss die Multitask-Gesellschaft wieder lernen, dass Sekunden-Entscheidungen nicht immer die besten sind. Die Künste des bewussten Abwartens, gelassenen Beobachtens und umsichtigen Entscheidens sind heute die wahren Soft Skills. Dazu bedarf es einer Korrektur in unserem Denken und unserem Handeln. Und einer Adaptierung unserer Lebensgeschwindigkeit. In diesem Sinne: Vergessen Sie beim Osterspaziergang Ihr Smartphone zuhause!