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Tacheles!

Viel beschworen wurde es in diesem Wahlkampf. Und jetzt gerät es erst recht in Wallung. Das Wiener Blut nämlich. Blankes Entsetzen, Stirnrunzeln  und Köpfekratzen bei allen Couleurs, außer bei der Abräumerpartei natürlich. Warum jetzt das große Rätselraten losgeht, ist mir nicht ganz begreiflich, ist es doch nur allzu nachvollziehbar. Im Zuge der leidigen Integrationsdebatte gab es nur eine Partei, die den Mut aufbrachte, Tacheles zu reden. (Der siegreiche Zahntechniker würde jetzt vermutlich nicht den jiddischen Begriff „Tacheles“ verwenden.)  Eine Partei, der man abnahm: Sie sagt, was sie denkt und denkt, was sie sagt. Und wenn es inhaltlich noch so ungustiös ist. Und nur eine Partei, die die Chuzpe hatte, die Ängste von einem guten Viertel der Bevölkerung nicht zu ignorieren. (Der Zahntechniker hätte vermutlich auch nicht „Chuzpe“ gesagt.)

Und ihm ist es dabei vollkommen egal, ob 70 % der anders denkenden Menschen in diesem Land, die nicht zum Potenzial der Blauen gehören, ebendiese als Rechte, Braune, Nazis oder ewig gestrige bezeichnen. Die Blauen richten ihre Strategie exakt auf ihr Potenzial aus! So hässlich die FPÖ-Kampagne auch war, sie vermittelte den Wählern ein klares Ziel. Die  Kampagnen von SPÖ, ÖVP und Grünen hingegen: Emotionslos, ohne Konturen, ein schwammiger Einheitsbrei. Frei nach Ernst Jandls „manche meinen: lechts und rinks kann man nicht velwechsern / werch ein illtum!“? Man hatte das Gefühl, sie glauben selbst nicht an das, was sie da von den Plakatwänden herunterlächeln. Wer keine Ideen hat oder sie zumindest nicht formulieren kann, darf sich nicht wundern, wenn der politische Mitbewerber der eigenen Zielgruppe einen (blauen) Bären aufbindet. Die hiesigen Scharfmacher aus dem blauen Lager übernahmen geschickt die deutsche Debatte um Thilo Sarrazin, frei nach der Losung: Man muss endlich darüber reden dürfen.

Die FPÖ fuhr eine klare Strategie und bot ihrer Klientel einfache Antworten auf berechtigte Fragen. Zu einfach für derart komplexe Problemstellungen wie die Integrationsfrage, das ist mir klar. Aber immerhin Antworten. Und die gereimt, damit man sie sich besser merkt. Der Rest hatte nicht nur keine Antworten. Der Rest hat sich nicht einmal die Fragen angehört. Der Rest tat die Sorgen und Probleme der Menschen dieser Stadt als Hysterie einer bildungsfernen Schicht ab. Nehmen Sie nur den Capo der Genossen. Ein  Archetypus der Selbstgefälligkeit, der den Gedanken der Sozialdemokratie konterkariert. Der nicht mehr weiß, wie es an der Basis zugeht und jede Baroloblindverkostung einem Face-to-Face-Gespräch mit einem Bürger dieser Stadt vorzieht. Das rächt sich. Die Entourage steht da um nichts nach: Fast ausnahmslos Menschen aus Berufsgruppen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Wie sollen pragmatisierte Beamte und Lehrer, Kammerfunktionäre und Parteisekretäre, die die Mehrheit in fast allen gesetzgebenden Körperschaften stellen, Politik für die Menschen machen?

Kürzlich habe ich in einer österreichischen Tageszeitung gelesen, dass im Jänner des 100. Geburtstags von Bruno Kreisky gedacht werden wird. Da ist mir folgendes Zitat Kreiskys  eingefallen: „Wir haben zwar nicht die Macht in den Medien, aber die Macht der Funktionäre.” Damit meinte er, dass das persönliche Gespräch wichtiger sei, als die veröffentliche Stimmung der Medien. Auch darüber sollte so mancher Politiker nachdenken. Denn wenn wir uns den großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit noch länger verschließen, werden wir nur noch mehr enttäuschte Wähler in die Arme der Scharfmachern und Extremisten treiben. Es ist höchste Zeit, dass wir uns endlich an eine vorbehaltlose Debatte über unsere gescheiterte Integrationspolitik wagen. Ohne falsch  verstandene politische Korrektheit! Dafür ist uns allen nur Masel tov zu wünschen. (Viel Glück, wie der Herr Zahntechniker sagen würde.)