Blog

„Spuck“ im Reich der Mitte

Nahezu traumatisiert sitze ich auf dem Rückweg von Peking, wo ich die letzten Tage auf der Fashionshow CHIC 2013 zugebracht habe, beim Stopover in Helsinki und höre noch immer dieses Röcheln, dieses nahezu animalische Geräusch, wenn Schleim lautstark im Mund gesammelt und von einer Wange zur anderen bewegt wird, bevor das gespeicherte Sekret die richtige Konsistenz für den Abflug aus dem Rachen zum sich nächst gelegenen Untergrund bahnt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich jemals ein Geräusch, das von Menschen abgegeben wird, so gestört hätte. Ein Darmwind, was sich im direkten Vergleich jetzt als Vorteil herausstellen könnte, kommt ja zumindest für das Gegenüber unvorbereitet, aber dieses Spucken (medizinisch korrekt Salivation), das ich bislang am asiatischen Kontinent weder in Malaysia noch in Singapur in dieser Form wahrgenommen hatte, ist schwer zu überbieten. Und auch wenn es angeblich immer wieder Regierungsinitiativen im Reich der Mitte gegeben hat, die Absonderung dieser trübflüssigen Exkretion zu untersagen, der Erfolg scheint bislang zumindest für einen Laien nicht erkennbar zu sein. Zumal unter der salivationsbegeisterten Bevölkerung die Meinung vorherrscht, dass diese ausgeschiedene Sabberei der inneren Reinigung dient. Um in diesem Bild zu bleiben: da bleibt dir als Europäer paradoxerweise doch die Spucke weg! Ein Fußgänger wie ich, zugegebenermaßen immer ein wenig sehr um Sauberkeit bemüht, fühlt sich in derlei Situationen nahezu bedroht, wenn einen bildlich gesprochen alle paar Zentimeter irgendwelche wildgewordenen, weil mit Gewalt aus dem menschlichen Körper heimatvertriebenen, Bakterien anspringen. Können Sie sich vorstellen, was ich die letzten Tage mitgemacht habe? Ein mit Essensresten gereichtes Besteck und ein mit Wasserschlieren und sonstigen Erinnerungen an den Gast davor serviertes Glas in einem sehr guten Restaurant der 20 Millionen Einwohner Metropole hat mir dann nur ein mildes Lächelns entlockt. So verschieben sich Realitäten!

Zu den verschobenen Wahrnehmungen würde sich auch ein kleiner Exkurs in Sachen Feinstaub anbieten. Die ersten drei Tage meines Aufenthaltes inmitten der Hauptstadt der Volksrepublik konnte ich vor lauter Smog ab einer Entfernung von schätzungsweise 200 Metern nur mehr die Umrisse von Gebäuden sehen. Als dann endlich ein ordentlicher Wind durch Peking fegte und Gebäude für das menschliche Auge in all ihren Konturen und Facetten sichtbar wurden, dachte ich mir, ich bin in einer anderen Stadt aufgewacht. Da passiert durch die Inaktivität der Behörden in Sachen Umweltschutz eine legalisierte Folter an Menschen in millionenfacher Form tagtäglich! Aber zurück zur ungeregelten Speichelabgabe, die mich, Sie merken es, wirklich beschäftigt und in die südchinesische Stadt Guangzhou geführt hat. Dort wurde vor ein paar Jahren ein Punktesystem auf Probe eingeführt, um den Sittenverfall zu stoppen. Mich wundert ehrlich gesagt, dass die Grünbewegung als politische Speerspitze der menschlichen Bevormundung in unseren geografischen Breiten diese, für mich ausnahmsweise mal nachahmenswerte, Initiative noch nicht entdeckt hat. Aber das liegt vielleicht daran, dass beim Blick über den Tellerrand hinaus zuviel CO2 ausgestoßen wird und die permanente Innenbeschau daher umweltverträglicher ist. Wie auch immer, die dortigen Stadtväter haben sich ein Regelwerk für Manieren überlegt. Jeder Bewohner von subventioniertem Wohnraum geht dort mit 20 Bonuspunkten an den Start. Insgesamt sind 29 Verfehlungen im behördlich festgelegten Sündenregister der Heimatstadt des zweimaligen Pokerweltmeisters (1987, 1988) Johnny Chan angeführt, die zu einem Punkteabzug und im schlimmsten Fall zum Wohnungsverweis führen können.

Wer innerhalb von zwei Jahren zu oft einen Kaugummi achtlos auf die Straße wirft und dabei erwischt wird, hat 3 Punkte am Konto weniger, wer in der Öffentlichkeit pinkelt wird ebenso geahndet, wer sorglos vor sich auf Gehwegen hinspuckt auch, und wer Zigarettenstummel umweltschädlich entsorgt kann sich ebenfalls einer Reduktion des Wertekontos sicher sein. Wer beispielsweise Müll aus dem Fenster kippt, wird mit 5 Minuspunkten auf der Habenseite gezüchtigt. Noch drakonischer wird die unsachgemäße Lagerung von giftigem oder explosiven Material verfolgt. “Das Punktesystem sei entwickelt worden, um eine zivilisierte, hygienische, sichere und harmonische Umgebung zu schaffen“, teilte das Büro für Landressourcen und Management der Stadt Guangzhou auf seiner Internetseite mit. Und wer binnen 2 Jahren 20 Punkte gesammelt hat, der muss seine Wohnung räumen. Ob der Verordnungsentwurf nach der Probezeit in die Realität umgesetzt wurde, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, aber ich würde eine derartige Initiative bei uns begrüßen. Jetzt mag es kulturell bedingte Verhaltensformen geben, die eine offene Gesellschaft anerkennen sollte, auch wenn mir das bei den erlebten Spuckorgien zugegebenermaßen schwer fällt. Aber bei vielen anderen die Umwelt- und Staatskassen belastenden Verhaltensweisen fehlt mir immer mehr jedes Verständnis. Weshalb darf jeder Schwachsinn bei uns reglementiert und mit Abgaben belegt werden, weil es ja keine Steuererhöhungen gibt, aber das 1 x 1 des Benehmens darf nicht besprochen werden. Wieso muss ein Teil der Steuerzahler in Zeiten immer knapper werdender Kassen so viele Ferkel, die keine Kinderstube haben, subventionieren? Dafür gibt es weder soziale, noch kulturelle, noch geografische Rechtfertigungen! Oder um im Sinne des bevorstehenden Osterfestes mit der mahnenden Stimme des Schweizer Aphoristikers Walter Fürst zu argumentieren: “Auferstehung ist nicht billig – erspar dir die Spesen der Hauptprobe.”