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Präventive Achtsamkeit

Erst, wenn man die hunderten Kerzen gesehen hat, erst, wenn man den die Grazer Innenstadt umhüllenden Duft von Kerzenwachs wahrgenommen hat, erst, wenn man die in Schlange stehenden Menschen vor dem Rathaus gesehen hat, kann man das Ausmaß der Tragödie erahnen, die sich am vergangenen Wochenende in der steirischen Landeshauptstadt abgespielt hat. Ich kenne einige Menschen, die am Samstag um die Mittagszeit im Zentrum der Stadt gewesen sind, als die Katastrophe ihren Lauf genommen hat – und die zum Glück nicht zu Opfern geworden sind. Familienangehörige, Freunde und Bekannte wurden von dieser Wahnsinnstat verschont, die bislang 3 Menschen sterben ließ und viele Kinder, Frauen und Männer schwer verletzt hat. Das Geschehen möchte und kann ich nicht kommentieren, auch möchte ich keine Mutmaßungen über die Motive des Täters anstellen. Nur auf einen Aspekt möchte ich eingehen, der im Nachklang solcher Taten nahezu zum Selbstverständnis gehört. Nämlich der Umstand, dass nachher schon immer viele aus dem Umfeld des Verbrechers gewusst haben, dass die Tat eigentlich voraussehbar und die Konsequenz einer langen Vorgeschichte gewesen ist.

Eine Begrifflichkeit schwirrt in meinem Kopf umher, während ich auf einem Flug Richtung Amsterdam diese Zeilen schreibe. Achtsamkeit lautet dieses Wort, das mich in meinen Gedanken beschäftigt. Ich bin umgeben von Menschen auf engstem Raum. Die einen lesen, die anderen spielen auf ihren Computern, andere lassen den Blick durch die Röhre des Flugzeuginneren kreisen. Eine junge Dame neben mir auf Sitzplatz 7E spielt in sich versunken auf ihrem iPad ein Spiel. Mein Sitznachbar in der selben Reihe, nur durch den Mittelgang getrennt, versucht ein Sudoku-Rätsel zu lösen, während er genussvoll an seinem Weißwein nippt. Wer sind diese Menschen, frage ich mich? In einer Statistik habe ich mal gelesen, dass sich unter 100 Passagieren, die in einem Flugzeug sitzen, statistisch gesehen mindestens ein Psychopath und eine weitere Person, die schon mal einen Gefängnisaufenthalt hatte, befinden. Dass ich unter ihnen auch eine Person entdecke, die unentwegt an ihrem Ellbogen lecken kann, möchte ich nicht weiter besprechen. Ebenso nicht dem Umstand, dass ein anderer Sitznachbar zu jenen 5 Personen gehören könnte, die laut Statistik zu den Analphabeten zählen müsste. Ich studiere die Leute rund um mich. Und so wie ich nichts von ihnen weiß, haben auch sie keine Ahnung davon, dass ich zu den 4 Personen von 100 gehöre, die vollkommen unmusikalisch sind.

Was nehmen wir von unserer Umgebung wahr? Was wissen wir von unseren Mitmenschen, von unserer Umwelt? Könnte nicht ein wenig mehr Achtsamkeit unser aller Blicke schärfen? Was wissen Sie von Ihren Nachbarn? Was wissen Sie von Ihren Arbeitskollegen? Was wissen Sie von Ihren Freunden? Ist es nicht so, dass wir allesamt einen Filter und eine Wegschaukultur entwickelt haben, die unsere Blicke von Menschen abwendet, sobald sie uns nicht gefällig sind oder es nicht gut bei ihnen läuft? Sind wir nicht alle gefährdet, die sprichwörtlichen „Motten um das Licht“ zu sein und die nur dann um so viele von wenig Substanz getragenen Beziehungen kreisen, wenn der Lichtkegel auf den Erfolg gerichtet ist? Menschen scheitern tagtäglich an ihren kleinen und großen Aufgaben. Sie scheitern in der Berufs- und Arbeitswelt, sie scheitern an privaten Beziehungen und Freundschaften, sie scheitern bei unzähligen Vorhaben. Aber wie reagieren wir auf all diese Schattenseiten des Lebens, auf die Talsohlen in den Biografien von Menschen, die durchschritten werden müssen? Ist die Realität nicht oft jene, dass die, die am Boden liegen, noch stärker sprichwörtlich mit den Füssen der Gesellschaft getreten werden? Jeder Mensch hat nicht nur gute, sondern auch böse Seiten und umgekehrt. Dessen sind wir uns alle bewusst. Aber vielleicht könnte manchmal ein wenig mehr an positiver Entschlossenheit und präventiver Achtsamkeit für den unmittelbaren Lebensraum Schlimmeres im Keim ersticken.