Osama bläst die Vuvuzela
„Einige Leute halten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“ Treffender wie der ehemalige Liverpool Trainer Bill Shankly kann man die weltumspannende Bedeutung des Sports um das runde Leder wohl kaum in Worte fassen. Wie Fußball die Massen bewegt, erleben wir in diesen ersten Tagen der WM, die wie durch Magie den ganzen Globus zu einen scheint. Die gemeinsame Freude, die Euphorie am Sport kennt buchstäblich keine Grenzen. Ohrenbetäubendes Vuvuzela-Summen in den Stadien, Verbrüderung beim Public Viewing und schon Wochen vorher gestandene Männer, deren Gedeih und Verderb von der Vollständigkeit ihres Panini-Sticker-Albums abhängt. Ich gebe zu, ich bin kein eingefleischter Fußballfan, aber ich interessiere mich für Kommunikation und ich mag Menschen. Schon allein deshalb fasziniert mich auch das Phänomen Fußball. Denn eigentlich, so hört man doch die Kritiker jammern, sei außer Kommerz nichts geblieben. Kein Herz sei mehr dahinter, keine Vision, nur eine gewaltige Marketing-Maschinerie, der Run auf Fernsehrechte, die Merchandising-Lawine. Auch der ehemalige argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti springt im ZEIT-Interview auf diesen Zug auf: „Ich möchte eine Fußballmannschaft spielen sehen, auf deren Trikot nicht irgendein Firmenname steht, sondern einfach das Wort Nein. Ein Nein zum Geschäft, das den Fußball auffrisst. Spieler und Trainer sollen zwar bekommen, was sie verdienen, aber das Geschäft darf nicht die Zeit stehlen, die der Fußball braucht, um gut zu sein.“*
Dennoch oder gerade deshalb: Der Fußball hat die Geltungssucht von Tycoonen wie Berlusconi oder Abramowitsch überlebt, die Vereine in Spielzeuge verwandeln, die Explosion der Ablösesummen und Gehälter, die Dominanz der Sponsoren, die sich in den Stadien immer breiter machen. Der Fußball hat die Flatterhaftigkeit der Spieler überlebt, die heute ein rotes und morgen ein blaues Trikot überstreifen und von der Identifikation der Fans nichts zurückgeben können.** Und nehmen Sie doch nur Fußballbegeisterung hierzulande: Warum um alles in der Welt brüllt sich allwöchentlich eine gar nicht geringe Anzahl an Supportern bei Begegnungen wie TSV Sparkasse Hartberg gegen FC Trenkwalder Admira die Seele aus dem Leib? Seien wir ehrlich: An der beispielgebenden Dynamik oder am einzigartigen Esprit des hiesigen Fußballsports liegt es bestimmt nicht. Mit Logik und gesundem Menschenverstand kommen wir hier also nicht weiter.
Christoph Biermann, Sportkolumnist bei der Süddeutschen Zeitung liefert eine plausible Erklärung: Fußball leert den Kopf. Radikal und komplett. Für 90 Minuten gibt es kein Grübeln und keine Gedanken, die über das Spiel hinausgehen.*** Ist Fußball also ein soziales Paralleluniversum, das uns den nebulosen Banalitäten des Alltags enthebt, uns für kurze Zeit die nächste Kreditrate, Umweltkatastrophen und den Krach mit der Ehefrau vergessen lässt? Vermutlich ja. Und dabei sicher auch ein Spiegel der Gesellschaft. Denn gerade heute leben die Menschen mehr nebeneinander her als miteinander. Einsamkeit ist nichts Außergewöhnliches. Das Interesse der Menschen ist vielseitig, da bleibt wenig, worüber ein Mensch mit einem ihm fremden Menschen diskutieren kann. Anders jedoch ist es im Fußballstadion, da spiegelt sich das soziale Leben. Da schimpft der Vorstandsdirektor gemeinsam mit dem arbeitslosen Tapezierer auf den Schiedsrichter. Jeder kann mit jedem reden. Positive als auch negative Emotionen werden miteinander geteilt. In Zeiten, da jeder nur mehr via Facebook und E-Mail, bestenfalls per Handy kommuniziert, gibt es eine große Sehnsucht nach einem direkten, unkomplizierten Austausch ohne gesellschaftliche Schranken. Und allen Tendenzen zur Individualisierung zum Trotz gibt es wohl doch ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaft und kollektiver Zugehörigkeit.
Sogar Osama Bin Laden soll, als er 1994 in London war, hin und wieder zu Spielen von Arsenal gegangen sein. Die Vorstellung, dass er da irgendwo gesessen hat in Highbury Park, vielleicht Osttribüne, Reihe 17, Sitz 4, schmal und unauffällig, holt ihn aus seiner Höhle zurück in die Welt. Er ist kein Dämon, kein Teufel, sondern einer von uns, einer der Miesesten und Schrecklichsten, aber wer zum Fußball geht, ist Mensch.** Fußball ist also vor allem eines: zutiefst menschlich. Und nicht zuletzt ist Fußball, wie wir ihn gerade erleben dürfen, gelebte Globalisierung. Wer einen Verein liebt, ist längst Internationalist oder müsste es sein. Hier dürfte für Rassismus kein Platz mehr sein. Schließlich stehen in einem deutschen Bundesligaspiel kaum mehr als drei, vier Deutsche auf dem Rasen. Das ist die „soft power“ der Weltmacht Fußball. Sie vereint uns in Momenten der Schönheit. Nun wird ein Zuckerpass Bin Laden nicht davon abhalten, Terror zu verbreiten. Er hat sogar einen Anschlag auf die Fußball-WM 1998 in Frankreich geplant. Aber allen, die noch nicht irrsinnig sind vor Hass, kann das Spiel Brücken bauen. **
Mein Tipp für den WM-Titel: Mein Herz schlägt für Argentinien! Da ist einfach Emotion und Leidenschaft dahinter. Welches Land hat schon einen Trainer, der bei einer offiziellen Pressekonferenz poltert, dass er für seine Spieler zum Mörder werden würde! Und Mr. Diego Armando Maradona am Spielfeldrand im feinen Tuch und wilder Mähne ist schon eine Klasse für sich! Ich gönne es auch den Brasilianern. Weil sie meist fröhlich auftreten und nicht arrogant. Und wenn sie gewinnen, dann so überzeugend, dass die ganze Welt ein gelbes Hemd anziehen und brasilianisch sein will. In diesem Sinne: „Wave your flag!“
* vgl. www.zeit.de
** vgl. www.spiegel.de
***Christoph Biermann: Wenn du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen.