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Lebenshunger an der Newa

Ich möchte einen kurzen Stop Over in der Alpenrepublik nutzen, um Ihnen, geneigte Freunde meiner kleinen, feinen Internetkolumne, über meinen Aufenthalt in St. Petersburg zu berichten. Manche nennen sie die schönste Stadt Russlands, andere das Venedig des Nordens. An der weiten Mündung der Newa in die Ostsee trifft die sprichwörtliche russische Weite auf Europas Städtekultur, aus meiner Sicht ein Melting Pot von Mensch und Kultur, wie er faszinierender und widersprüchlicher nicht sein könnte. Dass schon die Gründung dieser Stadt vor erst 300 Jahren allen Regeln der Vernunft entsprach – Peter der Große verwirklichte mit der Gründung St. Petersburgs auf sumpfigem Grund ja eine gewagte Utopie – passt da irgendwie ins Gesamtbild. Heute leben mehr als 5 Millionen Menschen in der nördlichsten Millionenstadt der Welt. Und wie sie leben! Noch selten habe ich irgendwo so viel Aufbruchsstimmung, so viel Lebenshunger, so viel Kreativität in einer Stadt erlebt. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Menschen durch die Nähe zu Finnland schon immer ein anderes Lebensgefühl eingeatmet haben. Im Zentrum der Metropole, am feudalen Nevsky Prospect erinnert die Szenerie ein wenig an die 5th in New York City. Nobelboutiquen, Luxusbrands, reiche Städter, die sich zu jeder Tageszeit über den breiten Boulevard drängen. Man hat fast den Eindruck die russische Seele schläft hier nie. Wären da nicht immer noch an jeder Ecke Uniformierte – nichts mehr würde hier an die Tristesse der Sowjetzeit erinnern.
Und dann, ein paar Blocks weiter, fühlt man sich doch wieder in die Anfänge der Perestroika zurückversetzt. Dabei haben die unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei Veränderungsprozessen nichts befremdliches an sich, im Gegenteil. Sie sind das eigentlich faszinierende an dieser Stadt. Man  kann sehen, durch unzählige Bauvorhaben und Revitalisierungsmaßnahmen, dass die Vergangenheit immer stärker zurückgedrängt wird und eine neue, eine im Kopf andere Generation das Kommando übernommen hat. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man von der Mercedesdichte in einem Land oder einer Stadt Rückschlüsse auf den Wohlstand ziehen kann. Selten habe ich irgendwo so viele Sterne auf Luxuskarossen prangen sehen. Wenngleich es auf der Hand liegt, dass der offen zur Schau gestellte Wohlstand noch sehr ungleich verteilt ist. Aber es ist an jeder Ecke spürbar, dass hier Menschen leben, die wild entschlossen sind, im globalen Wettbewerb mitzuhalten, ja voranzupreschen. Menschen, die Stagnation aus ihrem Wortschatz gestrichen haben. In beinahe jedem Lokal in der Stadt wird gratis W-Lan angeboten und auch genutzt, der Durst nach Kommunikation mit dem Rest der Welt scheint keine Grenzen zu kennen.

Kulturell stellt St. Petersburg vieles, was ich bislang rund um den Globus gesehen habe, in den Schatten. Seit 1990 gehört das gesamte historische Zentrum mit den dazugehörigen Baudenkmälern zum Kulturerbe der Menschheit. Die Eremitage, direkt neben dem prächtigen Winterpalais, mit ihren mehr als 2,7 Millionen Kunst-Objekten, ist fast zehnmal so groß wie die des Louvre in Paris. Gezeigt werden so gut wie alle klassischen Meister: Rubens, Monet, Renoir, Gauguin, Pablo Picasso, da Vinci, Michelangelo und vor allem Matisse: in St. Petersburg befindet sich die größte Henri-Matisse-Sammlung außerhalb Frankreichs. Als Kontrastprogramm sollte man Puschkinskaja 10 gesehen haben, ein autonomes Kulturzentrum, das schon seit Mitte der achtziger Jahre den St. Petersburger Mittelpunkt kreativer Unrast, oppositionellen Künstlergeists und neuer Utopien darstellt. Ein einzigartiges Konglomerat von Künstlerateliers, Galerien, Museen, Konzerträumen und Klubs hat sich da in einem Hinterhof etabliert. Zwanzig Jahre nach dem Ausbruch aus kultureller Starre ist die Puschkinskaja immer noch Avantgarde, zu der sich die alternative Szene St. Petersburgs hingezogen fühlt und sich an kreativer Improvisation begeistert.
Zu guter Letzt: Wer wie meine Wenigkeit lukullischen Genüssen zugetan ist, darf seinen Gaumen in dieser Stadt auf ganz besondere Freuden einschwören. So etwa im „Fiolet“, wo im Ambiente einer stylischen Lounge europäisch-asiatische Fusionsküche der Extraklasse serviert wird, die man nicht einmal dann vergisst, wenn man einen Wodka zu viel getrunken hat. In diesem Sinne: Nastrovje!