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Katastrophencocktail

„Wir schlürfen die Katastrophen wie die Cocktails“, hat der frühere deutsche Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm vor Jahren einmal gesagt, „und richten uns, sozial gesichert, im Untergang ein. Das neue Gesellschaftsspiel heißt: Titanic im Trockendock.” Und wieder einmal denke ich mir: Sie ist absurd diese Mediengesellschaft, die uns Nähe vorgaukelt und uns dabei immer die Option offenhält, schnell wieder weiterzuzappen und auf Distanz zu gehen. Die ARD-Sendung „Brennpunkt“ sendete diese Woche eine CNN- Reportage des Reporters Gary Tuchmann. Tuchmann schlenderte durch die Straßen von Port-au-Prince, um ihn herum verzweifelte Menschen, verwüstete Häuser, Tote, Verletzte. Wenn Tuchmann direkt in die Kamera schaute, hatte man den Eindruck, man hätte ihn nachträglich digital in die Szene montiert. *
Wieder einmal prallen Welten aufeinander. Ein traumatisiertes Land auf der einen und die geballte Betroffenheitsroutine der internationalen Medien-Armada auf der anderen Seite. Die Krise wird zum Fernsehereignis, eine Katastrophe zum Event. Kommt es mir nur so vor oder geht man mit der Vermarktung des Elends noch skrupelloser um also schon beim Tsunami 2004 oder dem Hurrikan Katrina 2005? Ist das Publikum im Zeitalter von Youtube, Twitter, Handyvideos & Co. Schon dermaßen an den schnellen Kick gewöhnt, bereits so schwer erregbar, so abgebrüht? Wo hört die Informationspflicht auf und wo fängt Voyeurismus an? Muss man einem Menschen seine Würde nehmen, indem man das Foto seines nackten, von Fliegen übersäten Leichnams um den Globus jagt? „Die grausamen Fotos der Katastrophe“, schreibt der Onlinedienst „Bild.de“ über eine Fotogalerie. Nach dem Bild eines nackten Mannes, den ein Lynchmob durch die Straßen zieht, poppt Werbung auf: „Wir schicken Deutschland in den Urlaub! 35 Prozent für Frühbucher.“

CNN-Mann Cooper erklärte dieser Tage, um welche Botschaft es wirklich geht bei dem medialen Dauerfeuer aus dem Krisengebiet: um die Selbstversicherung des Publikums nämlich, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen: „Wo immer Sie gerade sind, nehmen Sie einen geliebten Menschen in den Arm und danken Sie Gott, dass Sie heute Abend nicht in Port-au-Prince sind.“ Währenddessen ist ein merkwürdiger, fast zynischer Wettlauf ist im Gang: Wer ist am schnellsten? Wessen TV-Gala generiert die meisten Spenden? Wer schafft es am geschicktesten, sein Publikum mit geigenuntermalten Zeitlupen zu Tränen zu rühren? Ist uns Haiti wirklich näher, wenn uns Thomas Gottschalk, Sarah Connor, Felix Magath und Uschi Glas ihrer Bestürzung versichern? Und das Verstörende dabei ist: Die Medienkarawane wird weiterziehen. Die Scheinwerferkegel werden sich auf ein neues Erdbeben, eine neue Hungersnot, einen neuen Krieg richten. Gottschalk wird neue Galas moderieren. Und Haiti wird allein sein mit all seinen Trümmern und Toten.

* Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung