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Hilflose Gewalt

Die Opfer sind kaum verarztet und die Leiche des Täters geborgen, da waren einige Politiker und Experten gleich wieder mit Forderungen zur Hand: ein Verbot von Killerspielen, ein „Frühwarnsystem“, mehr Psychologen an den Schulen. Es sind die üblichen Reflexe, und sie demonstrieren vor allem eins: Hilflosigkeit im Denken. Während Deutschland darüber räsoniert, wie es zweineinhalb Jahre nach dem Schulmassaker von Emstetten abermals zu einer solchen grausamen Bluttat kommen konnte, haben die Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden das Schwerste vor sich. Sie werden mit ihren ebenso geschockten Lehrern darüber reden, weshalb ihr ehemaliger Mitschüler – ein 17-jähriger Einzelgänger, der Gewaltspiele liebte – offenbar keinen anderen Ausweg aus seiner tiefen Verzweiflung wusste. Sie werden auch darüber sprechen, warum ihn niemand daran hinderte, obwohl er die Tat im Internet angekündigt hatte.

Wie kann ein junger Mensch, der fast das ganze Leben noch vor sich hat, der nicht irgendwo ganz am Rande der Gesellschaft in der rohen Umgebung einer Großstadt aufwuchs, zu einem solchen Monster werden? Was fasziniert ihn dermaßen an brutaler Gewalt, dass er sie nicht nur am Computer und bei Schießübungen im Wald übt, sondern sie schließlich wie in einem Horrorfilm real auslebt? Warum funktionierten bei ihm nicht die uns normalerweise gegebenen Reflexe, die uns daran hindern, Hass, Wut, Frustration und Verzweiflung in zerstörerische Kraft gegen andere und sich selber umzusetzen?
Der Ruf nach einem Frühwarnsystem und mehr Psychologen an den Schulen ist deshalb nicht falsch. Aber es wird nicht reichen, Experten zu holen und mehr Lehrer und Schüler als Mediatoren auszubilden, die Konflikte schlichten sollen. Die Schulen, so wie sie sind, schlecht ausgestattet, mit zu großen Klassen und nicht selten überalterten, unmotivierten Lehrkräften, sind alleine nicht dazu in der Lage. Es bedarf dazu schon einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Die entscheidende Frage für mich lautet: Welches Rüstzeug müssen wir unseren Kindern heute mit auf den Weg geben, um sich in einem Alltag behaupten zu können, in dem Aggression und Gewalt beinahe schon zur Normalität gehören?  Ich maße mir kein Patentrezept an, aber ich denke mir es gibt ein paar wesentliche Maximen, mit denen wir unseren Kindern den Rücken stärken können:

  • Vermitteln wir Sprachkompetenz, damit sich unsere Kinder mit Worten, statt mit Fäusten wehren können.
  • Bringen wir ihnen einen kritischen Umgang mit Medien bei. Statistisch betrachtet hat ein junger Mensch 13.000 Stunden in der Schule verbracht, aber 24.000 Stunden vor dem Fernseher und hat dabei an die 30.000 Morde gesehen! Wer hinter die Kulissen blicken kann, wird sich nicht so leicht von Gewaltverherrlichung im Fernsehen oder in Videospielen hinreißen lassen.
  • Stärken wir das Selbstbewusstsein unserer Kinder, indem wir ihnen Zeit schenken, sie mit Wertschätzung behandeln und ihre Anliegen ernst nehmen.
  • Nehmen wir unseren Kindern die Angst vor dem Versagen! Scheitern gehört zum Leben dazu und ein Fünfer im Zeugnis oder ein wiederholtes Schuljahr sind kein Weltuntergang.
  • Lassen wir niemals die Kommunikation abreißen, denn vielfach haben wir in unserer schnelllebigen Zeit den Wert des Gesprächs vergessen.

Die zunehmende Gewaltbereitschaft  hat sicher auch damit zu tun, welche Werte in unserer Gesellschaft heutzutage als erstrebenswert dargestellt und vorgelebt werden: Leistung, Selbstverwirklichung, Konkurrenzdenken. Versagen ist da nicht vorgesehen. Dennoch ist es falsch, jetzt gleich wieder in allgemeinen kulturpessimistischen Katzenjammer zu verfallen. Denn trotz aller Probleme und der Misere an den Schulen werden die allermeisten Jugendlichen nicht zu Gewaltmonstern, auch wenn sie in der Schule sitzen bleiben, geschnitten werden und/oder am heimischen PC wie verrückt Ballerspiele spielen.
Ja, es gibt ein zunehmendes Klima der Gewalt, auch hierzulande. Aber es entspringt nicht nur einer allgemeinen Verrohung der Köpfe und Sitten. Es hat auch reale Ursachen wie Lehrstellenmangel, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulen und einen beinharten ökonomischen Wettbewerb um einen Platz im Leben und in der Gesellschaft. Daran, auch daran müssen wir arbeiten. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir wieder ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem Menschen, junge zumal, versagen können, ohne gleich ausgesondert zu werden oder sich nutzlos zu fühlen. Neue Amokläufe werden wir damit vielleicht nicht unbedingt verhindern können. Aber wir können damit einen Beitrag dazu leisten, dass nicht noch mehr Menschen in eine solche Verzweiflung geraten.