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Goldenes Lebensprinzip

Eigentlich ist das Leben ja zu kurz, um sich zu ärgern! Und tatsächlich spüre ich mit zunehmendem Alter in mir eine immer größer werdende Entspanntheit gegenüber Dingen, die mich vor einigen Jahren noch zweifelsohne in eine Empörtheit versetzt hätten. Vielleicht hat diese gewisse Form von Gelassenheit auch damit zu tun, dass die Kommentierung manch erlebter Situationen im Alltag eine eindeutige Überbewertung von mich störenden Umständen wäre. Mir ist klar und ich fordere auch ein, dass meine  „MitmenschInnen“ in größtmöglichster Selbstbestimmtheit leben und ihr jeweiliges Handeln nicht rechtfertigen sollen. Aber eines der wenigen Dinge, die mich noch immer in meinem lebendigen sozialen Umfeld aufregen, sind beispielsweise mangelnde Umgangsformen.

Erasmus von Rotterdam (1466-1536) war der Verfasser eines der ersten Benimmbücher im europäischen Kulturkreis. Er widmete sein „De civilitate“ aus dem Jahre 1529 dem Sohn des Fürsten Adolf von Burgund (1489-1540). Es gilt als Basiswerk vieler nachfolgender Benimmbücher oder der sogenannten Anstandsliteratur. Zu diesen Schriften zählte in weiterer Folge das auch noch heute bekannte Buch von Adolph Freiherr Knigge (1752–1796)Über den Umgang mit Menschen“ aus dem Jahr 1788. Seine Schrift wurde bereits zu seinen Lebzeiten sehr erfolgreich und nach seinem Tod von unterschiedlichen Herausgebern als „moderner Knigge“ überarbeitet. Heute ist dieser “Klassiker des zwischenmenschlichen Umgangs” Synonym für Benimmregeln schlechthin.

Ob Erasmus von Rotterdam, Adolph Freiherr Knigge oder der Philosoph Nicolai Hartmann (1882-1950) – um nur einige stellvertretend zu nennen – manche der von ihnen formulierten Ideen über den zwischenmenschlichen Umgang lesen sich heute ein wenig antiquiert, aber deren Grundgedanken und Überlegungen stammen noch aus einer Zeit, wo es selbstverständlich gewesen ist, dass der Einzelne gegenüber seinen Mitmenschen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hatte. Zu diesem simplen Selbstverständnis gehörten Grußformeln, wie „Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“, oder eine Bekundung des Respekts in Form von „Danke“ und „Bitte“.

In mir verfestigt sich immer mehr der Eindruck, dass das 1 x 1 einer zuvorkommenden Begegnung in vielen Fällen nur mehr anlassbezogen stattfindet. Das Gegenüber grüsst, antwortet, reagiert nur dann, wenn es einen zu erwartenden Benefit gibt. Und sonst? Gähnende Leere im Volk mit immer weniger an Gemeinsamkeit, an Achtung und Wertschätzung. „Respekt ist für viele nur ein Wort aus dem HipHop“ brachte es der SPIEGEL-Redakteur Jörg Schindler in seinem Buch „Die Rüpel-Republik“ auf den Punkt. Ein Festmachen dieser Fehlentwicklung an bestimmten Altersgruppen scheint allerdings zu kurz gegriffen. Denn wie soll sich eine nachfolgende Generation wesentliche, die Gesellschaft fördernde Kompetenzen aneignen, wenn die Vorbilder im Sinne eines authentischen Vorlebens bestimmter Werte und Haltungen immer mehr abhandenkommen?

Weitere Fragen könnten gestellt werden, beispielsweise eine, wie sie Richard Sennett in seinem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ formuliert hat. Der 1943 geborene US-amerikanische Kultursoziologe bringt die Problemlage wie folgt auf den Punkt. “Wie kann der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben?“ Ich würde dem hinzufügen, dass die (vermeintlich) Starken von heute öfter mal daran denken sollten, dass sich das Blatt ebenso kurzfristig und unabsehbar wenden kann und sie es dann sein könnten, die Menschlichkeit und Würde im Umgang dringend benötigen. Die in nahezu allen Religionsgemeinschaften gleichlautend formulierte goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ könnte ein ebenso simples wie wirkungsvolles Lebensprinzip für mehr Menschlichkeit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sein.