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Feindbildphase

Sehr geehrter Herr Bundskanzler,

mit meiner Kollegin Christine Steindorfer habe ich 2011 mein 2. Buch zur Thematik des Scheiterns auf den Markt gebracht. „Die Aufwärtsspirale“, so der Titel des Buches, wurde mehrfach verlegt und ist noch immer gut nachgefragt. Das als Arbeitsunterlage aufbereite Buch resultiert aus vielen Interviews mit Experten aus der „Problemlösungsindustrie“. Mit mehr als 140 Frauen und Männern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, vom Unternehmensberater bis zum Psychotherapeuten, vom Lebenscoach bis zum Sozialarbeiter, haben wir gesprochen. Für uns war interessant zu erfahren, wie Menschen, die zwar alle ob ihrer Ausbildung eine unterschiedliche Herangehensweise zur Lösung von Problemen haben, Gemeinsamkeiten in der Beurteilung von Krisen erkennen lassen. Wir wollten erforschen, welche Ratschläge uns Profis geben, um Krisen zu verhindern oder um aus Niederlagen wiederum schneller den Weg nach oben zu finden. Die Erkenntnis war, dass der Prozess des Scheiterns nie von heute auf morgen entsteht, sondern in Phasen.

Wenn man so möchte, dann kommt das Scheitern meist nicht überraschend, sondern in langsamen Dosierungen. Drei Phasen sind es, die den Betroffenen den Weg in den Abgrund aufzeigen oder als Hinweis dienen, einen eingeschlagenen Weg zu korrigieren. Zu Beginn steht die „Geisterfahrerphase“. Aus zu hohen Erwartungen werden unrealistische, unerreichbare Ziele. Man gesteht sich selbst nicht ein, dass man zu wenig erfahren, zu wenig vernetzt oder ähnliches ist. Man entwickelt immer mehr Ehrgeiz und Eifer für die Arbeit. Erste Warnsignale werden sichtbar. Inkompetenz in der Führung, Selbstüberschätzung, Planungsfehler, fehlende Zieldefinitionen usw. sind weitere Merkmale. Diese Signale werden oft nicht wahrgenommen, nicht hinterfragt. Ein Ausstieg aus der Abwärtsspirale wäre ratsam, eine Revidierung der Ziele dringend notwendig. Wer die Warnsignale nicht erkennt, der landet in der „Selbstverleugnungsphase“, noch nicht ist alles verloren, in der Realität der „Scheiterkandidaten“ existiert nichts, worauf sie reagieren müssten. Ziele werden nicht adaptiert, der Druck steigt weiter, die Erfolge bleiben aus, die Fehleranfälligkeit steigt weiter. Aktionismus statt exakte Planung kennzeichnen diese Phase. Am Ende des Prozesses gibt es dann die „Feindbildphase“, eigentlich ist noch nichts verloren, durch Selbstreflexion könnten Fehler erkannt, Ziele neu überdacht werden. Nicht aber bei jenen, die gegen Ende der „Feindbildphase“ nicht erkennen wollen, dass die Schuld bei ihnen liegt. Stattdessen werden Schuldige identifiziert (Geschäftspartner, Lieferanten, Dienstleister, Kunden). Nur selber ist man nicht schuld!

Finden Sie sich in diesen Gedanken irgendwie wieder, sehr geehrter Herr Bundeskanzler? Sie denken sich jetzt sicher, was will dieser Typ schon wieder von mir, wir hatten ja schon mal in Ihrer Zeit als ÖBB-Generaldirektor eine kurze Brieffreundschaft begründet:-) Ich beschwerte mich damals über den mangelnden Dienstleistungscharakter des im Staatseigentum befindlichen Unternehmens. Ihre PR-Abteilung hatte damals prompt reagiert. Für mich als Kunden ohne Alternative, ist die Situation übrigens unverändert. Egal! Heute schreibe ich Ihnen, weil ich einen Brief von Ihnen in meinem Postkasten vorgefunden habe. Sie ersuchen mich, dass ich Ihnen meine Stimme gebe. Ich werde das nicht tun, für das Amt des Bundeskanzlers sind Sie schlicht und einfach ungeeignet! CEO eines Unternehmens zu sein, für welches der Steuerzahler die Verluste trägt, das kann so ziemlich jeder. Und wenn dann diese Person auch noch den größten Werbeetat des Landes zu verantworten und zu verteilen hat, der für einige Medien die Butter auf das Brot ist, dann werden sich genug Redaktionen finden, die jeden von Ihresgleichen in lichte Höhen schreiben. Nun sind Sie aber in der Realität angelangt!

Sie beweisen wirklich seit Wochen und bei allem Respekt, dass Sie der Persönlichkeitsanalyse des aus Ihrem Umfeld stammenden „Profilers“ entsprechen. Sie rennen wehleidig durch die Gegend, ohne jede zündende Idee für unser Land zu haben, außer „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht.“ Wer so einen Slogan verantwortet, der ist fern jeder Wirklichkeit und hat in seiner Wahrnehmung die Lebensrealität der Menschen nicht erkannt. Sie hatten Ihren Matchball im Frühjahr, nach der Präsentation Ihres „Plan A“, da gab es noch keinen jugendlichen Kandidaten an der Seite Ihres Koalitionspartners, der Sie jetzt nach allen Regeln der Kunst vorführt. Sie hatten nicht den Mut, aufs Ganze zu gehen, Sie hatten Angst vor dem Scheitern, um wieder beim Eingangsthema zu sein. Stattdessen haben Sie sich weiterhin mit all diesen Menschen umgeben, die Ihnen heute das politische Grab schaufeln! Es war nicht der politische Gegner der Sie gezwungen hat, diesen israelischen Politikberater zu nehmen, der bislang weniger durch Ideen, als durch das Betätigen der Dreckschleuder aufgefallen ist. Es sind nicht die anderen Spitzenkandidaten gewesen, die Sie aufgefordert haben, dass Sie einen für die Allgemeinheit verhaltensauffälligen, aber Ihrer Beurteilung nach Intellektuellen engagieren, um als Ihr Ghostwriter zu agieren. Es waren auch nicht die anderen Parteien, die Sie angewiesen haben, jemanden in Ihr Team zu holen, dessen zweifelhafte Kompetenz bislang darin bestand, einem politischer Mitbewerber, der einen Kandidaten mit Behinderung in den Wahlkampf schickte, das „Krüppellied“ zu wünschen – und es waren auch nicht irgendwelche Dämonen, die Ihre engsten Mitarbeiter untereinander handgreiflich werden ließen. Das hat alles mit Ihnen zu tun! Kennen Sie das Sprichwort „So wie man sich bettet, so liegt man“? Die durch die Medien x-fach dokumentierten Ereignisse haben nur mit Ihnen zu tun, mit mangelnder Führungskompetenz, gepaart mit unzureichender Menschenkenntnis! Ganz ehrlich, würden Sie sich bei objektiver Betrachtung noch selbst wählen können?

Fragt in demokratischer Verbundenheit,

Gerhard Scheucher