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Fehler im System

Es muss Ende der 70er Jahre gewesen sein, ich war noch grün hinter den Ohren, als Bruno Kreisky im Zuge des Wahlkampfs, meine Geburtsstadt Köflach besuchte. Gemeinsam mit meinen Eltern und meiner Großmutter pilgerte ich, wie viele andere Bewohner dieses typisch steirischen Industriestandortes, ins Volksheim, um den Kanzler zu hören. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was der Sonnenkönig damals sagte, ich weiß nur noch, dass er mit gewaltiger Verspätung in der gesteckt vollen Halle eintraf und dass die Worte, die er an die Menge richtete, aus meiner Sicht unerträglich monoton waren. Und trotzdem erntete er fast nach jedem Satz tosenden Applaus! Erst viele Jahre danach wurde mir klar, dass die Verspätung des Kanzlers strategisches Kalkül war, schließlich hatte er mehr zu tun, als der normal arbeitende Mensch und konnte schon deshalb nicht pünktlich sein. Auch die langsame Sprache Kreiskys war kein Zufall, sondern gewolltes Differenzierungsmerkmal zum Mitbewerb und maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Menschen an seinen Lippen hingen, wenn der Kanzler seine honorige Stimme erhob. Noch heute gibt es ein Erinnerungsfoto von Kreisky mit meinem Vater, das in meinem Elternhaus hängt.

In seiner ersten Pressekonferenz als Bundeskanzler antwortete Kreisky auf die Frage, was ihn in dieser Stunde erfülle: „Mut und Lust.“ Geht das nicht runter wie Öl, verglichen mit dem, was unsere gewählten Volksvertreter heute als Motivation ins Regierungsgeschäft einbringen? Oder wie es Günter Traxler dieser Tage in einem Standard-Kommentar formulierte: „Österreichs Zukunft, in die zu blicken diese Koalition riskiert, reicht nicht viel weiter als bis zur nächsten Ministerratssitzung.“ Raunzen liegt mir nicht, aber es ist doch offensichtlich dass die Weltläufigkeit von Dick & Doof und ihrer Entourage spätestens am Alpenhauptkamm an ihre Grenzen stößt. Die Kapazitäten zu vernetztem, globalen Denken sind schlichtweg nicht vorhanden. Mit einer unfassbaren Selbstgenügsamkeit agieren da die Herrschaften in ihrem österreichischen Mikrokosmos, als wäre es der Nabel der Welt. Gefahrenzone Tellerrand. Entscheidungsfreudigkeit: Fehlanzeige. Man könnte es sich ja mit irgendjemandem verscherzen. Und wenn gar nichts weitergeht, heißt das dann im Amtsdeutsch Reformstau, so muss sich keiner verantwortlich fühlen.

Ich behaupte ja nicht, dass damals alles gut war und heute in der Politik alles schlecht ist. Aber wo findet man in unseren Breiten noch Staatsmänner vom Kaliber des „Alten“. Gut, Kreisky war ein schwer greifbarer Quergeist, einer der die Bourgeoisie verachtete und gleichzeitig den Typus des Sozialisten im Nadelstreif prägte. Aber er tat das mit Handschlagqualität, redete kein Lari Fari, sondern hatte Mut zur Entscheidung und machte, wenn ihm eine Sache wichtig war, Nägel mit Köpfen. Kommunikation war Kreiskys größte Gabe. Egal ob Bauer, Hochofenarbeiter bei der Voest oder hohe Diplomatie – er vermittelte jedem Authentizität und Glaubwürdigkeit, die von ehrlichem Interesse war. Kreisky jonglierte mit der deutschen Sprache wie kein anderer und schaffte es mühelos, komplexe Sachverhalte auf ihre Essenz herunterzubrechen, so dass es jeder verstand. Er sagte ja auch von sich selbst: „Ich bin ein schrecklicher Vereinfacher.“

Mir fallen dazu die von Max Weber definierten Qualitäten ein, die ein Politiker haben sollte: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß. Wenn ich diese drei Qualitätsmerkmale auf die Jetztzeit umlege, dann frage ich mich: Wo sind die Spitzen unseres Staates, die nach diesen Handlungsmaximen leben? Kreisky hatte Leidenschaft! Er wollte Österreich für alle Menschen, quer durch alle sozialen Schichten modernisieren, das ist ihm eindrucksvoll gelungen. Er hatte auch Leidenschaft dafür, die Welt ein wenig besser und gerechter zu machen, er machte das kleine Österreich zum Treffpunkt der Weltmächte, um über Fragen der militärischen Abrüstung zu diskutieren. Ein Kosmopolit, der es stets verstand, kluge Allianzen zu schmieden. Und wenn Leute wie der ehemalige Präsident Jimmy Carter oder der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew, nicht zu uns kamen, dann ging Kreisky in die Welt hinaus. Man stelle sich den amtierenden Bundeskanzler Werner Faymann dabei vor, internationale Politik zu machen. Ich sage dazu jetzt gar nichts… Und wo haben Faymann und auch Pröll wirkliche Ideen für unser Land? Eine Vision, an der sich Menschen orientieren können? Wie sieht deren Verantwortungsgefühl aus, um Webers zweiten Qualitätsbegriff zu zitieren? Wo findet in der aktuellen Politik eine Verteilungsgerechtigkeit statt? Wo werden Maßnahmen gesetzt, die den Staat stabilisieren, die sozialen Frieden gewährleisten? Kreisky hatte sicherlich das Glück, in einer Zeit des Aufschwungs Politik machen zu können. Aber das alleine ist noch kein Garant für den Erfolg! Dazu gehört auch Augenmaß, um Webers drittes Merkmal zu nehmen. Kreisky hat dieses Augenmaß und ein Gespür für Strömungen und Schwingungen in der Bevölkerung, er war gleichsam ein lebender Seismograf. Wer in der Politik, Oppositionsparteien eingeschlossen, verfügt heute über solches Augenmaß?

So gesehen eignet sich Kreiskys 100. Geburtstag doch wunderbar dafür, die politischen Führungskräfte unseres Landes an dieser hohen Benchmark zu messen. Und jene Eigenschaften, die den Grandseigneur in den Geschichtsbüchern als Staatsmann unsterblich machen, als Messlatte für die Tugenden eines guten Politikers zu setzen. Das wäre doch ein Anspruch für die jetzigen Verwalter Österreichs, sollte irgendwann jemand ihre Biografien lesen. André Heller meinte kürzlich über die Lichtgestalt Kreisky im davor herrschenden politischen Mief der siebziger Jahre: „Kreiskys Misstrauen gegen konventionelle Meinungen und Strukturen, sein Blick über den Tellerrand, seine kosmopolitische Sicht auf das Geschehen wirkte damals in Österreich wie ein Fehler im System.“ Ich finde, es mieft ganz schön in diesem Land. Höchste Zeit für einen Fehler im System.