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Falsche Verführer

Heute vor 82 Jahren, am 7. August 1932, notierte der deutsche Romanist Victor Klemperer (1881–1960) in seinem Tagebuch “Hitler ante portas – oder wer sonst? Und was wird aus mir, dem jüdischen Professor?” Aus dem eigenen Haus vertrieben und mit dem nationalsozialistischen Reichsbürgergesetz begründet, aus seiner Professur an der Hochschule Dresden entlassen, fristete er sein Dasein. Der drohenden Deportation entkam er, den Krieg überlebte er mit leichten Verletzungen. 1947, kurz nach Ende des Krieges, erschien unter dem Titel LTI – Notizbuch eines Philologen(Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches) eines seiner bekanntesten Werke, das ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen sollte. Sein 2003 unter der Regie von Stan Neumann verfilmtes Buch kommt zum Ergebnis, “dass die Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus die Menschen weniger durch einzelne Reden, Flugblätter oder Ähnliches beeinflusst habe als durch die stereotype Wiederholung der immer wieder gleichen mit nationalsozialistischen Vorstellungen besetzten Begriffe”. Eine Systematik, die bei hunderttausenden Menschen nach dem Motto “Steter Tropfen höhlt den Stein” wirkte und Adolf Hitler unter tosendem Applaus der Massen an Spitze des größten Unrechtssystem der Geschichte setzte.

Der Tagebucheintrag von Viktor Klemperer lässt mich an ein Erlebnis aus dem heurigen Frühjahr erinnern. Für den 10. April hatte ich beabsichtigt – in Erinnerung an die 1938 erfolgte Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs ans Hitlerdeutschland – eine Gedenklesung zu veranstalten. Dabei wollte ich mit entsprechender musikalischer Begleitung die Wahlaufrufe von damaligen Schauspielern, Dichtern, Schriftstellern, Sängern und anderen Künstlern vortragen. Ein Medienanwalt und Urheberrechtsexperte hatte mir dringend davon abgeraten, da etwaige Erben Ansprüche erheben könnten. Die Zitate sind auch mit der zeitlichen Distanz zur damaligen Epoche nur schwer zu ertragen, haben doch viele Künstler nach Ende des Krieges ohne großes Zögern und wiederum ganz selbstverständlich die Seiten gewechselt, um ihre Karrieren fortzusetzen. Etwa der Schauspieler Paul Hörbiger (1894–1981), 1964 mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich gewürdigt, der zum Volk sprach: “Seit zwölf Jahren als Österreicher in Berlin lebend, ist für mich mit “JA” zu stimmen eine klare und deutliche Angelegenheit, da ich ja nicht nur Zeuge des Verfalls in Deutschland war, sondern auch den fast unglaubhaften Wiederaufstieg mit erleben durfte!” Oder der Heimatdichter Karl Heinrich Waggerl (1897–1973), Träger des Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, der meiner Großelterngeneration ins Gewissen redete: “Mögen alle Sünden verziehen sein, nur die eine nicht: Jetzt noch zu zweifeln oder zu vereinen.” Und auch die noch 1984 mit dem Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film ausgezeichnete Trägerin des Ehrenringes der Stadt Wien, Paula Wessely (1907–2000), gefeierte Film- und Theaterschauspielerin, wusste es: “Ich freue mich, am 10. April 1938 das Bekenntnis zum großen volksdeutschen Reich mit Ja ablegen zu können und so die von mir immer betonte Kulturverbundenheit der österreichischen Heimat mit den anderen Gauen zu bekräftigen!” Zuerst wurden die Künstler vom Führer verführt, dann verführten sie in seinem Auftrag das Volk. Die drei von mir zitierten „Testimonials der NSDAP stehen stellvertretend für viele andere Künstler, wie beispielsweise Hilde Wagener, Friedl Czepa, Ferdinand Exl, Erwin Kerber, Rolf Jahn, Anny Konetzni, Josef Weinheber, Karl Böhm, Hans Kloepfer, Geraldine Katt uva.

Schon einmal hat mir eine Episode des legendären Wiener Kulturstadtrats Viktor Matejka (1901–1993) als Verhaltensregel gegen die Verführer gedient. Der KZ-Überlebende (er aß als Erinnerung an das KZ nur mit dem Löffel), der seine Lebenserinnerungen in Buchform unter dem Titel Widerstand ist alles zusammenfasste, forderte seine Gesprächspartner permanent auf, Hähne zu zeichnen. Der Hahn, so Matejka, wecke die Menschen aus dem Schlaf, schrecke die Lethargischen auf und sei der geborene Warner und Ruhestörer. Ruhestörung sei etwas Positives, meinte Matejka, und unorthodoxes Verhalten eine Bereicherung. Wenn wir den Verführern mit falschen Ideologien keine Chance geben wollen, wenn wir wollen, dass die Rechtspopulisten in Europa nicht noch mehr an Stärke gewinnen, dann werden wir einen gesellschaftlichen Diskurs ermöglichen müssen, in dem Menschen ihre Ängste und Nöte benennen dürfen. Die Tendenz, immer mehr Ersatzdebatten zu führen, um die sozialen Brennpunkte aus dem Alltag der Politik verschwinden zu lassen, wird Gegenteiliges bewirken. Die am vorigen Wochenende verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer formulierte dazu ein entsprechendes Politikverständnis: Die Bürgerinnen und Bürger sind sehr wohl bereit, auch unangenehme, schmerzhafte Entscheidungen und Maßnahmen mitzutragen – vorausgesetzt, sie sind gut begründet, nachvollziehbar und vor allem gerecht.” Ein nachhaltiger Merksatz, um Verführern Einhalt zu gebieten!