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Entartete Satire

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828 – 1910) notierte in seinem Tagebuch ein Jahr vor seinem Tode „Man kann alles aussprechen, sich Luft machen, ohne jemanden zu verdammen“. Dieses Zitat veranlasst mich darüber zu reflektieren, warum es gegenwärtig im Gebrauch der Sprache kaum mehr Nuancierungen und Farbschattierungen gibt – das simplifizierende Schwarz/Weiß übertüncht die differenzierende Buntheit und ist erschreckend dominant geworden. Je nach Sichtweise erfolgt auf der einen Seite des Farbspektrums die Huldigung in Superlativen und auf der anderen Seite die Vernichtung ohne Rücksichtnahme auf menschliche Würde. Letztere wird im Alltag von vielen Medien vorgelebt: zur Norm und nicht zur Ausnahme erhoben wird, was einer angeblich wohlmeinenden Regel zu Grunde liegt. Die gesamte Industrie desUnterschichtenfernsehens“ profitiert davon, Menschen, die am sozialen Rand leben, unter dem Gejohle des Publikums „vorzuführen”, damit sich Dritte daran ergötzen können, dass es Frauen und Männer gibt, deren Dasein noch trister und aussichtsloser als das eigene ist. Die Sprache passt sich dem Niveau der Sendeformate an: Beschimpfungen, Herabwürdigungen und Diskriminierungen werden somit in kleinen Dosierungen salonfähig gemacht. Zu den Widersprüchlichkeiten unserer Zeit gehört, dass dann in Sphären des meist akademischen Diskurses nahezu schon pathologisch nach Worten gesucht wird, denen Ecken, Kanten und Bedeutung genommen werden müssen, damit sich niemand beleidigt, erniedrigt, verachtet, in seinen religiösen Gefühlen oder geschlechtlichen Präferenzen verletzt fühlt. Sogar Kinderbücher müssen umgeschrieben werden, damit die politisch korrekte Sprache ihren „Siegeszug“ fortsetzen kann. Weil deren Propagandisten der großen Fehleinschätzung unterliegen, dass es Dinge, die nicht mehr benannt werden, letztlich auch nicht mehr gibt. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat einen schönen Satz geprägt, der uns Menschen eigentlich ins Stammbuch geschrieben gehört: „Das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt.“ Jeder und jede von uns ist gefordert zu wissen, was Sprache und deren Gebrauch anrichten kann, ob im Guten oder im Bösen, ob im Ernst oder im Spaß und vor allem an die Medien gerichtet, ob zum Zwecke der Objektivität oder lediglich der Quotenhascherei.

Die letzten Tage waren sehr arbeitsintensiv, ich bin viel unterwegs gewesen und finde erst heute Zeit, um ein paar „Geschichten“ in den Medien nachzulesen. Gerade habe ich Jan Böhmermanns Erdogan-Gedicht entdeckt, das seit Tagen die diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Istanbul in eine ordentliche Schieflage bringt. „Sackdoof, feige und verklemmt, ist Erdogan der Präsident. / Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner, selbst ein Schweinepfurz riecht schöner. / Er ist der Mann der Mädchen schlägt, und dabei Gummimasken trägt. / Am liebsten mag er Ziegen ficken, und Minderheiten unterdrücken, / Kurden treten, Christen hauen, und dabei Kinderpornos schauen. / Und selbst Abends heißts statt schlafen, Fellatio mit hundert Schafen. / Ja, Erdogan ist voll und ganz, ein Präsident mit kleinem Schwanz. / Jeden Türken hört man flöten, die dumme Sau hat Schrumpelklöten. / Von Ankara bis Istanbul, weiß jeder, dieser Mann ist schwul, / pervers, verlaust und zoophil Recep Fritzl Priklopil. / Sein Kopf so leer, wie seine Eier, der Star auf jeder Gangbang-Feier. / Bis der Schwanz beim pinkeln brennt, das ist Recep Erdogan, der türkische Präsident.“ Das ist angeblich feinste deutsche Satire, wie ich gerade erfahren habe und lernen darf!? Nennen Sie mich veraltet, nennen Sie mich intellektuell zu eng aufgestellt, nennen Sie mich falsche Zielgruppe, um die Botschaft dieser rassistischen und diffamierenden Hasstirade zu verstehen. Spätestens jetzt, um mit Kurt Tucholsky zu sprechen, bin ich mir sicher, dass Satire nicht alles darf! Und wenn Sie diese Satire im Gegensatz zu mir als gelungen empfinden, dann machen Sie doch einen Selbstversuch: bedienen Sie sich der zitierten Verse als Vorlage, adaptieren Sie diese auf Ihren Partner, Arbeitgeber, Freundeskreis, Nachbarn und warten Sie deren Reaktion ab. Und schreiben Sie mir dann bitte, wie diese ausgefallen ist!

Stellen Sie mich ins rechte Eck oder bezichtigen Sie mich der Zensur: voll Überzeugung kontere ich, dass es sprachliche Grenzen geben muss! Was hat die als sogenannte Satire titulierteSchmähkritik, ungeheuerlicher Weise von der größten öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt Europas auf Kosten der Zwangsgebührenzahler produziert, überhaupt noch mit berechtigter Kritik zu tun? Das ist die von Verteidigern dieser Parodie im NEO MAGAZIN ROYALE vom 31. März 2016 gewollte Freiheit der Kunst, die alles darf, während andererseits die Bürger durch den Staat immer mehr ihrer Rechte beschnitten werden? Ist diese Form einer vollkommenen und ihr Ziel sicher verfehlenden Diffamierung eines durchaus zweifelhaften Menschen gleichsam eine Aufforderung an uns alle, uns stärker in der „Alltagssatire“ zu üben? Ist das der Maßstab, wie wir uns mit Personen auseinandersetzen, die uns ideologisch, menschenrechtlich und kulturell nicht zu Gesicht stehen? Ist das eine neuer Level in der Debattenkultur am unteren Ende der Skala? Was ist der nächste Schritt, der unter dem Gejohle des Publikums vollzogen wird, wenn die Gewalt der Worte nicht mehr als Inszenierungs- und wie in diesem Fall als Unterhaltungsform ausreichen? John F. Kennedy sagte Anfang der 60er Jahre „Worte können eine Gesinnung, eine Haltung, eine Atmosphäre vermitteln und schaffen – oder ein Erwachen herbeiführen.“ Positiv angewandt sollte uns dieses Zitat ermahnen und erinnern, dass Eskalation noch nie den Boden für die Verständigung von Staaten und Völkern aufbereitet hat. In der praktischen Anwendung dieser Handlungsmaxime ist zuerst die Politik gefordert. Über die aktuelle Böhmermann-Debatte hinaus sollten sich viele Medien fragen, wo sie selbst noch zum Vorbild gereichen, um Menschen klüger werden zu lassen für ein andermal!