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Die Realität der Würde

Die „Rede über die Würde des Menschen“ gehört zu den berühmtesten Texten der Renaissance. Verfasst wurde sie von Giovanni Pico della Mirandola, der 1463 in der heutigen Region Emilia-Romagna geboren wurde. Den Weg an die Öffentlichkeit fand dieses Manuskript, das als „eines der edelsten Vermächtnisse” dieser Kulturepoche bezeichnet wird, erst zwei Jahre nach dem Tod des italienischen Philosophen im Jahr 1496, als die Schrift von Picos Neffen in Bologna verlegt wurde. Pico beschreibt in seiner nie gehaltenen Rede „den Menschen als von Gott in die Mitte der Welt gesetztes Wesen. Demnach ist das Leben der Tiere und Pflanzen durch ihre Triebe vorherbestimmt, dem Menschen allein obliegt es, Kraft seines freien Willens, sein Leben zu gestalten.” Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818 – 1897) deutete darin eine “für die Renaissance typische stolze Selbstverherrlichung des Menschen, der sich zum Herrn seines Schicksals gemacht habe.” Soll so sein, könnte man ein wenig salopp anmerken. Wichtig scheint mir, dass es zu dieser Zeit Leute – vorwiegend Philosophen – gegeben hat, die den Wert des Menschen erkannt haben, ihm eine Entwicklungsmöglichkeit “durch Anstrengung und Ehrgeiz” zutrauten. Mit der Forderung nach der freien Entfaltung des Menschen, die sich auf Würde und Freiheit gründet, wurde damals ein wesentlicher Grundstein des neuzeitlichen Menschenbildes gelegt.

Was benötigt man, um in Würde zu leben, fernab alles Materiellen? “Equal rights for all”, könnte eine Antwort einer angeblich globalisierten und vernetzten Welt lauten. Wer von Würde spricht, sollte sich mal in seinen tagtäglichen Handlungen überlegen, wo er sie im zwischenmenschlichen Agieren fördert oder behindert. Es brauchte den 2. Weltkrieg, die grausame Erfahrung mit den Nationalsozialisten und die Entwürdigung von ganzen Völkern, bis sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechteverständigte. Mit Übersetzungen in mehr als 300 Sprachen ist sie einer der meistübersetzten Texte, aber hat das am Unrecht und an der Unterdrückung, die Millionen von Menschen noch immer tagtäglich grausam erfahren müssen, wirklich etwas geändert? In Theorie sind vielleicht alle Menschen gleich, aber bei der Verteilung der Lebenschancen? Ein saudi-arabischer Blogger wurde letzte Woche zu zehn Jahren Gefängnis und 1000 Peitschenhieben verurteilt, weil er im Internet eine Diskussion über Politik und Islam in Saudi-Arabien anstieß. Eine 27 Jahre alte Frau im Sudan – im 8. Monat schwanger – soll dieser Tage wegen angeblicher „Gotteslästerung“ und ihres christlichen Glaubens hingerichtet werden. Ein Richter in Khartum verurteilte sie zum Tod durch Erhängen. Was würden diese beiden Menschen über die Verteilung der Lebenschancen sagen? Wie würden sie den Begriff “Würde” umschreiben? Solche Nachrichten, die wir noch immer im 21. Jahrhundert ertragen müssen, lassen erhebliche Zweifel an der Entwicklungsfähigkeit mancher Staaten und Völker aufkommen, sie machen sprachlos. Die Goldene Regel fällt mir dazu ein „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Warum wären manche Prinzipien so einfach zu befolgen und werden dennoch nie zur Realität?