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Auswahlslos

Die Leser meiner kleinen Kolumne haben sicher schon mit Spannung darauf gewartet, dass ich meine Gedanken zur aktuellen politischen Situation in der Alpenrepublik artikuliere. Ein Stopover in Abu Dhabi lässt mich bei einem gepflegten Glas Rotwein den einen oder anderen Gedanken festhalten. Dass Österreich noch immer funktioniert, hat dieser Tage offensichtlich weniger mit der Politik als mit den oftmals zu Unrecht gescholtenen Beamten zu tun, denke ich mir. Gut am desaströsen Ergebnis für SPÖ und ÖVP beim ersten Durchgang für die Bundespräsidentenwahl ist, dass ein paar längst notwendige Debatten in Gang gesetzt wurden. Oder ist es nur dem Umstand gezollt, dass die Politik endlich verstanden hat, dass nicht erst seit Monaten, sondern seit Jahren an der Gefühlslage und vor allem an der Lebensrealität der Menschen vorbeiregiert wird? Vielleicht wachen ja noch einige bis zur entscheidenden Stichwahl am 22. Mai auf und wählen das kleinere Übel Alexander Van der Bellen und nicht den schmissigen FPÖler Norbert Hofer, der mit seiner Wahl diesem Land und darüber hinaus das Fürchten – in Form von Untergrabung der gelernten Strukturen – vorexerzieren würde. An dieser Stelle muss man allerdings deutlich differenzieren. Wenn der blaue Präsidentschaftskandidat zu Protokoll gibt: Sie werden noch sehen, was alles möglich ist“, dann mag es ja unter besorgten Bürgern, insbesondere jenen, die mit den sozialen Brennpunkten nie in Berührung kommen, einen bereits vorhandenen Angstzustand verstärken, wonach ihr beschauliches Dasein durch eine aus ihrer Sicht präsidiale Fehlbesetzung in Unruhe geraten könnte. Wenn SPÖ und ÖVP dieses Zitat aufgreifen, dann vermutlich weniger, um besorgte Bürger zu schützen, sondern vermutlich eher aus Angst und Bange, dass das seit fast 70 Jahren proporzmäßig geübte und durch die Kraft des jeweiligen Bundespräsidenten in Form von Ernennungsdekreten paraphierte „Nervensystem Österreich“ wirklich ins Wanken geraten könnte. Von den Inhabern von Berufstiteln, über Richter und Schulleiter (wenn sie Bundesbeamte sind) bis hin zu Offizieren oder Trägern von Amtstiteln, die Liste ließe sich fortsetzen: alle Ernennungen benötigen Unterschrift und Siegel des HBP. Da geht es ums Eingemachte, nicht um die großen Aufgaben, wie beispielsweise seine Funktion als Oberbefehlshaber des Bundesheeres. Nein, der Umstand, dass ein HBP Hofer plötzlich Unterschriften für die meist über Scheinhearings in Positionen und davor bereits zwischen Rot und Schwarz aufgeteilten Positionen verweigern könnte, treiben den Altparteien die Schweißperlen auf die Stirn. Das ist das wirkliche Bedrohungsszenario, das abgewendet werden muss, werden doch gerade auf Grundlage dieses Unwesens mit Posten, Pöstchen und sonstigen Geschenken die Kader der Altparteien bei Laune gehalten. Und da scheint ein HBP Van der Bellen eher berechenbarer, da er doch viel mehr dem gelernten Österreicher entspricht und selbst nicht schlecht im System mit geschwommen ist.

Dieser Teil der Situationsanalyse ist für das gelernte „Stimmvieh“ am wenigsten interessant, finde ich. Viel mehr sollte die allseits beliebte Phrasendrescherei der politischen Kaste mit ihren mehr oder minder gut vorgetragenen und verschleiernden Schachtelsätzen durch konkrete Inhalte befüllt werden. Wenn ich mir ansehe, wer sich jetzt in der SPÖ alles berufen gefühlt hat, dem vor wenigen Tagen noch amtierenden Bundeskanzler und Parteivorsitzenden die Rute ins Fenster zu stellen, denke ich mir schon: und was ist „deren Leistung“ gewesen? Ich habe bereits seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler und SPÖ-Parteivorsitzender befunden, dass Werner Faymann aus verschiedensten Gründen eine eklatante Fehlbesetzung war, aber vor diesen SPÖ-Repräsentanten in manchen Bundesländern, die sich dort gerade noch oberhalb der Wahrnehmungsgrenze bewegen, gehörte er eigentlich geschützt. Werner Faymann hat den letzten möglichen Schritt gemacht, um einer konzertierten Demontage zuvorzukommen. Aber wo sind die konkreteren inhaltlichen Impulse aus den eigenen Reihen geblieben? Wenn etwa der steirische Ex-Landeshauptmann Franz Voves Richtung Wien poltert, dass seine SPÖ „auf Tod programmiert“ sei, könnte auch mal die Frage gestellt werden, was er außer Schutt und Asche in der steirischen SPÖ hinterlassen hat? Und wenn jetzt das Heil der einstigen Arbeiterbewegung in der Person des Ober-Lokführers Christian Kern gesucht wird, muss man schon kritisch anmerken, dass mit dem millionenschweren PR-Budget der ÖBB vermutlich jede politisch ambitionierte Person zum Guru aufgebaut werden kann. Man wird sehen, wie die PR-Maschine des neuen Bundeskanzlers funktioniert, wenn er von den Wirtschafts- auf die Politikseiten der Medien wechselt. Und wenn ich mir die ÖVP ansehe, da ist der gelernte „Geilomobilfahrer“ Sebastian Kurz der leuchtende Stern am sonst düsteren Himmel der einstigen Volks- und Großpartei geworden? Auch hier gilt, wer soll ein Außenressort nicht unfallfrei regieren können? Dieses PR-Ressort verlangt kein besonderes politisches Geschick, oder kennen Sie einen österreichischen Außenpolitiker, wenn man von Alois Mocks kurzen Hosen in Jordanien absieht, der jemals ob der Bürde des Amtes ins Trudeln gekommen wäre? Ich nicht! Aber dort, wo es um die Zukunft des Landes, um die Gestaltung von Lebenschancen geht, da passiert viel zu wenig, was den Menschen Zuversicht für eine gesicherte Zukunft gibt. Im Sozialbereich wird kontinuierlich die Sparkeule geschwungen und einst errungene Maßnahmen werden in einem der reichsten Länder der Welt nur mehr nach unten revidiert. Aber die „kleinen Leute“ sehen, dass jeglicher Sparwille außer Kraft gesetzt wird, wenn es um die Vorteile für einige wenige im System geht. Oder wenn eine hilflos gewordene Politik immer und immer wieder betont, dass Bildung die besten Chancen schafft, um eine gesicherte Existenz begründen zu können – die Menschen spüren und erkennen, dass diese vermeintliche Grundregel immer mehr an Gültigkeit verliert. Selbst eine akademische Ausbildung reicht heute nicht mehr, um am Arbeitsmarkt überleben zu können, selbst wenn die Regierungsverantwortlichen nicht müde werden, immer wieder Gegenteiliges zu behaupten. Und schließlich kann noch beispielhaft der Wohnungsmarkt betrachtet werden, wo ebenso immer mehr Frauen und Männer, Familien, Junge und Alte erfahren müssen, dass das Einkommen zusehends seltener ausreicht, um einen adäquaten Wohnraum finanzieren zu können.

Weitere Sachbereiche könnten genannt werden, um zu dokumentieren, dass das, was die Regierenden den Menschen erzählen, rein gar nichts mit dem zu tun hat, was ihnen tagtäglich in der Realität des Lebens begegnet. Genau dieser Umstand schafft den Nährboden für die Vereinfacher, das schafft die Basis dafür, dass eine FPÖ ohne jede wirkliche Idee und Problemlösungskompetenz mittlerweile bei fast 40 % der Wählerstimmen angelangt ist. Besorgnis erregend ist, dass jene, die mittlerweile blau wählen, wohl nur im geringen Maße ewig Gestrige oder dezidierte Rechte sind. Es sind zusehends auch Menschen, die die Schnauze von all diesen Geschichten voll haben, die die Regierenden erzählen, und die im praktischen Leben von immer mehr Betroffenen so schlichtweg nicht erfahren werden. Erst unlängst habe ich aus dem Munde eines der profiliertesten Manager unseres Landes vernommen, dass sich „die Menschen immer weniger leisten können, da der Staat immer mehr braucht”. Was aber ist die Gegenleistung des Staates, was sind die Konzepte der Regierenden, könnte eine berechtige Frage lauten? Was ist der Deal dafür, dass man den Menschen in einem überbordenden Abgaben- und Steuersystem nicht zu selbstverständlichen Zahlungen verpflichtet ist, sondern dass sie im Gegenteil wie die Weihnachtsgänse ausgenommen, oder wie Zitronen bis zum letzten Tropfen ausgequetscht werden? Wir haben eine Rekordarbeitslosigkeit, wir haben Staatsschulden in einer Höhe, die der nachfolgenden Generation alle Hoffnungen auf ein sozial abgesichertes Leben nimmt, wir haben eine noch nie da gewesene Steuerquote und wir haben seit 2009 sinkende Realeinkommen. Das ist das Substrat, aus dem diese große Unzufriedenheit entsteht! Ich habe persönlich noch nie zuvor derart viele Menschen wie in den letzen Wochen getroffen, die sich so überraschend offen für einen künftigen freiheitlichen HBP deklarierten. Und diese wahlberechtigten Personen, die das ganz offen aussprechen, sind ideologisch fern jedes rechten Randes, sie sind einfach nur noch angewidert von dem, was die Regierung den Menschen zumutet. Den 22. Mai werde ich in London verbringen und von der Ferne das Wahlverhalten der Österreicher verfolgen. Wem werden sie ihre Stimme geben? Dem Herrn Prof. Van der Bellen, dem auch ich 2010 vertraut habe? Über welche Kompetenzen definiert sich der Ex-Grüne, der jetzt zum unabhängigen Kandidaten mutiert ist? Über besondere Glaubwürdigkeit etwa? Als er letztmals 2010 bei der Wiener Wahl angetreten ist, um die unsagbare Grüne Spitzenkandidatin vor einer drohenden Wahlniederlage zu retten, hat er seinen Anstand öffentlich gemacht! Das grüne Urgestein konnte 11.952 Vorzugsstimmenwähler für sich einnehmen und gelangte damit vom eigentlich unwählbaren Platz 29 der Grünen Landesliste auf Platz 1 – ein Novum bei den Wiener Wahlen. Und was machte Herr Van der Bellen, er entzog sich schlichtweg seiner Verantwortung und nahm das Mandat nicht an. So viel zu dem von ihm affichierten verantwortungsvollen Umgang mit Wählerstimmen. Und auch wenn ich den Restbeständen von SPÖ und ÖVP einen Norbert Hofer als Bundespräsidenten aus genannten Gründen nahezu wünschen würde, wählen könnte ich ihn dennoch nicht. Die Menschen in diesem Land sind weiter als die Politik glaubt, und sie erleben und reflektieren tagtäglich die Diskrepanz zwischen Schein und Sein aller politischen Versprechungen. Nutznießer des politischen Versagens der Eliten ist leider die falsche Partei. Deren Stärke resultiert fataler Weise daraus, dass jene, die das Sagen haben, nicht willens oder schlicht und einfach nicht fähig sind, den Menschen die Existenzängste vor der Zukunft durch konkrete Lösungen in der Gegenwart zu nehmen!