Auf der Straße
Wann immer man in den letzten Wochen und Monaten die Nachrichten sah, dominierten Bilder von Menschenmassen, die für bzw. gegen etwas auf die Straße gingen. Ob Stuttgart21, die Massenproteste gegen die Sparmaßnahmen in Frankreich oder zuletzt der Aufmarsch von 50.000 gegen den Atommülltransporter Castor nach Gorleben. Was bei den Bildern auffällt: Es sind längst nicht nur mehr die „üblichen Verdächtigen“, die ihrem Unmut und ihrer Wut öffentlich Ausdruck verleihen. Palästinensertücher und Juttetaschen sieht man zwar immer noch, aber mehr und mehr sind es auch Rentner, Schüler oder Angestellte, politisch vermutlich gar nicht mehr so weit links der Mitte angesiedelt, die sich plötzlich Auge in Auge der Staatsmacht gegenüber sehen. Wer mich kennt, weiß ja: ich bin genervt von Hobbydemonstranten. Zum Beispiel das öffentliche Jammern zur Abschaffung der Studiengebühren – einst bekannt unter dem Pseudonym Donnerstagsdemo – empfinde ich als armselige Zusammenrottung von Realitätsverweigerern.
Doch was im Augenblick auf den Straßen Europas passiert, macht deutlich, dass offenbar eine kritische Masse erreicht ist, für die die Kluft zwischen Regierenden und Regierten unerträglich geworden ist. Der Gedanke, der sie alle zu einen scheint: Es reicht! Nehmen Sie die Zustände hierzulande. Mit der blauschwarzen und dann orangeschwarzen Regierung wurde das Prinzip des politischen Anstands offensichtlich endgültig abgeschafft. Absurditäten wie die Buwog-Privatisierungen unter der Federführung von „Schwiegersohn der Nation“, KHG oder eine Justiz, die ganz ungeniert am Gängelband der Politik geht (Stichwort Elsner), stehen den Leuten bis obenhin.
Wenn ich mir ansehe, dass der ehemalige deutsche Umweltminister Jürgen Trittin dieser Tage lautstark gegen die Castor-Transporte wettert und sogar bei den Demonstranten gesichtet wird, drängt sich mir schon die Frage auf: Wo war er, als er noch als Regierungsmitglied der damals rotgrünen Regierung in Deutschland fungierte? Warum hat er sich nicht damals gegen die Regierungslinie gestellt? Oder war ihm sein Amt, waren ihm seine Privilegien am Ende wichtiger als seine politische Überzeugung? Und in Frankreich glaubt Nicolas Sarkozy, dass die Probleme der Menschen mit konsequenter PR weggeschrieben werden können. Das wird dauerhaft nicht funktionieren. Moderne Kommunikationsformen haben zu einer neuen Form der Demokratie geführt. Zu viele Menschen bewerten und verwerten Informationen tagtäglich oder tauschen sich über soziale Netzwerke aus. Sie boykottieren Unternehmen, die nicht in ihrem Sinne agieren, prüfen welche Banken dahinterstecken und wechseln die Konten. Ungerechtigkeiten und Missstände werden heute schneller aufzeigt, Menschen mobilisiert. Die Politik steht dem ganzen Treiben nahezu machtlos gegenüber und wundert sich, dass die Patentrezepte von vorgestern nicht mehr greifen.
Um noch einmal zu den Atomgegnern zurück zu kommen: Kein vernünftiger Mensch glaubt daran, dass Gorleben nicht mehr als Endlagerstandort in Betracht kommt, wenn die Bauern nur laut genug hupen. Oder dass Kraftwerke wegen überlaufender Müll-Zwischenlager abgeschaltet werden müssen, weil elf Castoren gestoppt werden. Aber Fakt ist: 50.000 Menschen zeigen öffentlich, dass sie stinksauer sind, weil ihre Regierung nicht in der Lage ist, ein belastbares Konzept für die Zukunft der Energieversorgung im Lande vorzulegen und lieber ihre Atom-Klientel bedient als eine lebensnahe Energiepolitik zu betreiben.* Vielleicht entsteht hier ein neues Demokratiebewusstsein. Vielleicht werden wir gerade Zeugen einer gesellschaftlichen Zeitenwende. Vielleicht lassen sich die Menschen nicht länger verarschen. Es wäre wünschenswert.
* Quelle: www.diezeit.de