Anläuten und fragen was los ist!
Ich bin gerade dabei ein paar Dinge zu ordnen, ich ziehe nach über 8 Jahren aus meiner Wohnung in der Wiener Innenstadt aus. Irgendwie habe ich die Gegend um die Wohnung, den Spittelberg und die Steinwurfnähe zum 1. Bezirk sehr gut angenommen. Es erfreut mich immer wieder, dass ich von Kultur, Urbanität und modernem Lebensgefühl umgeben bin, eingebettet in traditionsreiche Gebäude, wo jedes für sich unzählige Geschichten erzählen könnte. Wenn ich beispielsweise aus meinem Wohnzimmerfenster schaue, dann blicke ich auf das Mechitaristenkloster, eine Kongregation armenisch-katholischer Mönche, die 1810 in Wien sesshaft wurden. Was könnte diese schmale Wohnstraße, mit Steinen gepflastert, an Geschichten erzählen – über Menschen, die sich durch diese Gasse bewegt haben, über Geschehenes hinter den Hausmauern. In wenigen Wochen werde ich dann vermutlich letztmalig durch die Eingangstür des Hauses Mechitaristengasse Nummer 7 schreiten. Ob ich in Wien bleibe oder nach Berlin gehe, ob ich mich als Fakir in Indien versuche oder Schlangenbeschwörer in Bangladesch werde, all das ist noch ungewiss.
Es vergehen die Jahre, man wird an einem Ort zeitweise sesshaft und dennoch bleibt vieles fremd. Als ich heute morgen die Wohnung verlassen habe, dachte ich mir, da lebe ich nun in einem für eine Großstadt sehr kleinen Haus, es gibt dort gerade mal 8 Wohnungen, und ich kenne keinen einzigen Nachbarn persönlich beim Namen. Und das nach fast einer ganzen Dekade. Man begegnet sich im Stiegenhaus, grüßt sich freundlich und das ist es gewesen. Ein persönliches Gespräch findet so gut wie nie statt. Ich verlasse im Normalfall sehr früh das Haus und komme eigentlich nie zu einer Büroschlusszeit nach Hause. Einzig meine Nachbarn einen Stock unter mir sehe ich manchmal im Haus oder davor auf der Straße, wenn sie mit ihren Hunden raus müssen. Als ich in all der Zeit einmal bei einem Nachbarn angeläutet habe, weil ich mir einen Schraubenzieher ausborgen wollte, war dieser sichtlich über meinen unerwarteten Besuch irritiert. Vor meinem Küchenfenster führt eine Pawlatsche (Laubengang des Hinterhofes) zu einer kleinen Garçonnière in der immer wieder neue Mieter, meist Studenten, wohnen. Ich sehe manchmal ihre Silhouetten an meinem Fenster vorbeihuschen, weder ich habe mich jemals bei einem Nachbarn vorgestellt, noch einer sich bei mir.
Vor einigen Tagen habe ich erstmalig den Namen Silvia Seidel registriert. Der Name dieser Frau ist mir nicht bekannt gewesen, erst die Medienberichte über ihren Selbstmord haben mir das Wesen des einstigen Kinderstars vermittelt. Die 1969 geborene Münchnerin wurde in den 80er Jahren als Ballettschülerin in der Hauptrolle der ZDF-Weihnachtsserie Anna zum Star, tausende Mädchen eiferten ihr nach. In der letzten Woche bereitete sie ihrem Leben eine Ende, vereinsamt, verarmt, ohne festes Engagement und offensichtlich ohne Freunde. Tagelang hat sie tot in ihrer Unterkunft gelegen, erst der Wirtin vis-à-vis ihres Wohnhauses ist aufgefallen, dass tagelang auch in der Nacht das Licht gebrannt hat. Darauf hin alarmierte sie die Polizei, die nur noch den leblosen Körper der Schauspielerin vorgefunden hat. Als ich heute in einer *Zeitung gelesen habe, dass in Wien eine Frau vermutlich 18 (!) Monate tot in ihrer Wohnung gelegen hat und das weder ihren Nachbarn noch sonst jemandem aufgefallen ist, greift man sich nur mehr auf den Kopf. In einer angeblich immer vernetzter werdenden Welt vereinsamen wir immer mehr und nehmen von einander im realen Leben keinerlei Notiz. Der Drehbuch-Autor der Fernsehserie Anna, Justus Pfaue, hat in der *B.Z. einen Nachruf auf die verstorbene Silvia Seidel geschrieben. Am Ende seiner Zeilen schrieb er “Jemand hätte sie in den letzten Jahren anrufen sollen. Jemand hätte fragen sollen, wie es ihr geht. Jemand hätte Silvia Hilfe anbieten sollen. Dafür schäme ich mich heute: Dieser Jemand hätte ich sein können.” Worte, die einen nachdenklich werden lassen. Sofort fallen einem Menschen ein, die sich vielleicht über einen Kontakt freuen würden. Beginnen könnte man in der unmittelbaren Nachbarschaft, anläuten und fragen was los ist. So einfach könnte eine Basis für gesellschaftliches Miteinander gelegt werden, die vielleicht am Ende Leben rettet! Diesen guten Vorsatz will ich mir auch für meinen bevorstehenden Wohnungswechsel machen!
* http://www.krone.at/Oesterreich/Frau_lag * http://www.bz-berlin.de/leute/