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Adressat unbekannt

Mein Freund Dieter hatte zu meinem gestrigen Blog “Nietzsches Affen” ein paar Anmerkungen. Er ist, so der Running Gag zwischen uns, mein mir fehlender historischer Unterbau. Zugegebenermaßen ist er mir da oder dort ein wenig überlegen, aber ich glaube, er hatte einfach mehr Zeit zum Studieren. Er absolvierte das kleine Fächerbündel Philosophie, Religionswissenschaft, Theologie, Skandinavistik und Psychologie so nebenbei, ich habe es gerade zum Schmalspurakademiker mit einem Master-Studium gebracht. Daraus ergeben sich ein paar geistige Distanzen zwischen ihm und mir, nicht mal das Lesen überdurchschnittlich vieler Bücher hat mir da geholfen, in manchen Bereichen Oberwasser gegenüber meinem “intellektuellen Zuchtmeister” zu bekommen. Egal, ich arbeite weiter an mir! Ich hatte Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ als Lektüre zur moralischen Erbauung von Straffälligen empfohlen. Diese Empfehlung war ein wenig mit Augenzwinkern gemeint, da schon der Titel sehr gut zu dem von mir bei den Empfängern vermuteten Geisteszustand gepasst hätte. Dieter, der genau dieses Buch zum Gegenstand seiner Magisterprüfung hatte (was ich natürlich nicht wusste), zählte mir in einem kleinen Exkurs ein paar Anmerkungen auf, die dieses von mir genannte Werk als nur mäßig tauglich für die moralische Resozialisierung von ein paar Provinzpolitikern erscheinen lassen. Wie auch immer, ich werde mir meine Buchtipps sorgfältiger überlegen, insbesondere dann, wenn ich die Geschichte der Geschichte nicht gänzlich ausgeleuchtet habe.

Eine andere Geschichte in Buchform habe ich gestern gelesen, ich habe sie nicht nur verstanden, sondern sie hat mich auch aufgewühlt und zutiefst betroffen gemacht. Anfang der 2000er Jahre kam ein über 60 Jahre vergessenes Buch in unseren Sprachraum. Die 1903 in Portland geborene und spätere Werbetexterin, Kressmann Taylor, hat 1938 mit dem Buch “Adressat unbekannt” ein fiktiven Briefwechsel von beklemmender Aktualität geschaffen. Insgesamt 19 Briefe aus der Zeit von November 1932 bis März 1934 erzählen die tragische Geschichte einer Freundschaft. Der amerikanische Jude Max Eisenstein und der deutsche Einwanderer Martin Schulse führen in San Francisco gemeinsam eine Kunstgalerie, bis Martin Ende 1932 nach Deutschland zurückkehrt und in München eine Nazi-Karriere macht. Der Briefpartner in Kalifornien sorgt sich um seine Schwester Gisela, die in Berlin Theater spielt, und er bittet den alten Freund, sie zu beschützen. Martin verweigert jegliche Hilfe und überlässt seine einstige Geliebte der SA (Sturmabteilung der NSDAP), sie wird auf Schulses Anwesen von SA-Männern erschlagen. Über diesen Vorfall berichtet Schulse Eisenstein und fordert seinen einstigen Freund ferner auf, weitere Korrespondenzen zu unterlassen, da Verbindungen mit dem Judentum seine Karriere gefährden könnten. Eisenstein, der an dieser Nachricht fast zerbricht, schreibt fortan einen Brief nach dem anderen, wissentlich dessen, dass der Geheimdienst die Briefe öffnet und lässt Schulse als Agent einer jüdischen Widerstandsorganisation erscheinen. Schulse fleht Eisenstein an, mit dieser Korrespondenz aufzuhören, da sein Leben ernsthaft in Gefahr sei. Eisenstein jedoch schreibt unbeirrt weiter, wohl wissend, welch vernichtende Wirkung seine Briefe haben werden, bis ein Brief aus dem Frühjahr 1934 mit dem Vermerk “Adressat unbekannt” zurück kommt.

Begrüßt Schulse seinen Freund anfangs noch mit „Lieber alter Max“, so wird man fassungslos, als er bereits 1933 (!) seine Briefe mit „Heil Hitler!“ einleitet. Die Auswirkungen von zunächst vielleicht überlegtem Mitläufertum Schulses sind ein Spiegelbild für den Zustand der Gesellschaft, damals wie heute. Es sind diese Männer und Frauen, die wegschauen, wo es besser wäre hinzuschauen. Es sind diese Leute, die immer nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Es sind diese Personen, die still sind, wenn sie laut sein sollten. Es sind diese immer nur auf den eigenen Vorteil bedachten Mitläufer. Menschen, die Umgangsformen, Sensibilität und Engagement nur dann erkennen lassen, wenn es gerade in die Windrichtung der Beliebigkeit und Unverfänglichkeit passt, egal, ob andere Menschen dabei Nachteile erlangen oder mit Freiheit oder gar mit dem Leben bezahlen müssen, wie in jener Epoche, die als Grundlage für dieses lesenswerte Nachdenkbuch “Adressat unbekannt” dient. Einige tausend Menschen besuchen pro Monat meine Internetseite, die große Mehrheit meiner Adressaten ist mir unbekannt, aber ich möchte sie mit meinen Blogs mitunter dazu animieren, eine Haltung einzunehmen, sich zu artikulieren. Wieder mal muss ich den von mir sehr verehrten Oskar Werner bemühen, weil es sehr gut zum Thema passt. Im Film “Der letzte Akt” hat er als Sterbender das Publikum mit den Worten “Seid wachsam! Sagt nie wieder Jawoll! Damit hat der ganze Mist angefangen. Seid wachsam!” zurückgelassen. Was kann man dem noch hinzufügen?