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Ab zum Altpapier!

Es hat Zeiten gegeben, da war es ein Muss, Günter Grass zu lesen. Zur politischen Grundgesinnung gehörte es, seine Bücher inhaliert zu haben – nicht zuletzt, um das Rüstzeug zu erhalten, politische Debatten von hohem moralischen Anspruch führen zu können. Viel Geld habe ich für seine Werke ausgegeben. Mein letztes Buch, das ich von dem aus Danzig stammenden Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker erworben habe, war die 2003 veröffentlichte Neuauflage von “Mein Jahrhundert”. Die mit zahlreichen Illustrationen versehene Publikation wurde damals in einer Rezension des Magazins “Focus” als ein ungewöhnliches Buch bezeichnet. “Es ist von allem ein wenig: Roman, Erzählungen-Sammlung, Geschichtsbuch, Autobiografie. Ein Buch, das Geschichte lebendig macht, gerade – und das will Grass – auch für junge Leser.” Dieser Meinung konnte ich mich voll anschließen. Ein großformatiges Buch, mit schönen Zeichnungen geschmückt, das man wahllos aufschlagen und dem man immer lesenswertes Futter für den Geist entnehmen konnte.

Als am 30. September 1999 der ständige Sekretär “Der Schwedischen Akademie” den *Nobelpreisträger für Literatur bekannt gab, lautete die offizielle Begründung für die Nominierung von Günter Grass für einen der wohl renommiertesten Preise: „Weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat“. Jemand wie der 1927 geborene “Großmoralist” wusste Zeit seines Lebens viele Antworten auf viele Fragen und war auch nie darum verlegen, deutliche Worte zu finden und die Keule für Anstand und Gerechtigkeit am liebsten beidhändig auszufahren. Beispielsweise rügte er 1966 den frisch gewählten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Kurt Georg Kiesinger, mit den Worten: „Wie sollen wir der gefolterten und ermordeten Widerstandskämpfer, wie sollen wir der Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagten, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?“ Damit spielte er auf die NSDAP Vergangenheit des 3. Regierungschefs nach Kriegsende an, der 2 Jahre, 10 Monate und 21 Tage im Amt war.

In all dieser aufklärerischen Arbeit fand der zweifelsohne verdiente Schriftsteller bis 2006 keine Gelegenheit, seine persönliche Geschichte im Detail zu besprechen. Laut eigenen Angaben meldete er sich im Zweiten Weltkrieg mit 15 Jahren freiwillig zur deutschen Wehrmacht, um aus der familiären Enge zu entkommen. Wo ging man damals sonst schon hin, wenn es im elterlichen Haus langweilig war, könnte man fragen? Nach dem Einsatz als Luftwaffenhelfer und der Ableistung des Reichsarbeitsdienstes wurde er am 10. November 1944 im Alter von 17 Jahren zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS einberufen, weil er bei der von ihm favorisierten U-Boot-Truppe nicht genommen wurde. All das setzte seine Freiwilligkeit voraus, sich irgendwann auf das bislang größte Unrechtssystem der Geschichte einzulassen. Und es bedarf wahrscheinlich keiner besonderen Weitsicht, dass es 1999 niemals den Literaturnobelpreis für Grass vor diesem Hintergrund gegeben hätte. Die Rückgabe der seit 1901 jährlich vergebenen Auszeichnung wäre ein Zeichen des persönlichen Anstandes gewesen, ein spätes Symbol der Einsicht! Aber es ist halt immer leichter, bei den jeweils anderen Wasser zu predigen und sich selbst mit Wein zu betrinken.

Vielleicht hat Günter Grass diese Regel wirklich sprichwörtlich angewendet und befindet sich deshalb in einer geistigen Unordnung im Verhältnis zu seiner Intelligenz, aber sein am 4. April 2012 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichtes Prosagedicht “Was gesagt werden muss” ist ein Armutszeugnis in der Beurteilung der Faktenlage. Aber noch unerträglicher finde ich mittlerweile die noch immer in weiten Teilen vorherrschende Uneinsichtigkeit des Verfassers, hier einfach Realitäten falsch bewertet zu haben. Die einzige Demokratie im Nahen Osten in der von ihm gewählten Form anzupatzen und den Iran gleichzeitig zu verteidigen zeigt, dass er jede politische Differenzierung missen lässt und in polemischen Pauschalierungen verfangen bleibt. Ich habe mit Günter Grass abgeschlossen! Das wird ihm ziemlich egal sein, aber ich werde einen Schritt setzen, den ich schon 2006 überlegt hatte. Ich werde mich seiner Schriften entledigen, nicht weil ich sein literarisches Werk verachte, aber sein Gedankengut und sein Umgang mit seiner eigenen Geschichte findet keinen Platz mehr in meiner Bibliothek. Nachahmer sind gesucht!

* http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/